Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Elles, einer aktuellen lesbischen Zeitschrift, und ich finde es skan-da-lös, wie dieses Sonett in der Öffentlichkeit besprochen wird. Es ist doch etwas einfach, sich hinter Baudelaire zu verstecken, um den Sapphismus zu karikieren und daraus eine Art voyeuristische Show nur für schwarze Sklavinnen und jüdische Jungfrauen zu machen. Das ist nicht nur widerlich, das ist eine homophobe Sichtweise, die ausdrücklich per Gesetz verboten ist.«
Monot brauchte nicht zu antworten, andere Hände schnellten hoch, streckten sich, um das Mikro an sich zu reißen. Eine schwarze Journalistin mit amerikanischem Akzent protestierte gegen den Protest und fragte, mit welchem Recht der Lesbianismus weißen, freien Frauen vorbehalten sein sollte; der israelische Korrespondent von Maariv fand die Rolle der jüdischen Vestalin bedauerlich, sie könne den französisch-israelischen Beziehungen nur schaden. Der Vertreter von Familie und Glaube verlangte schlicht und einfach die Zensur dieses abstoßenden Sonetts, das, wie die Dinge aussahen, auch leicht den Weg in die Schulen finden könnte; was wiederum den heftigsten Einwand des Chefredakteurs von NKZ dS (Nicht-konfessionelle Zeitschrift der Schulen) zur Folge hatte, der ganz im Gegenteil die Lektüre des Sonetts als Vorbedingung für die Sexualerziehung sah, die Thema des letzten Rundschreibens gewesen sei…
Das Durcheinander war perfekt. Mit einem breiten Lächeln gab Priscilla Smet den Polizisten ein Zeichen, die Bühne zu verlassen, anscheinend war die Pressekonferenz beendet. Nur wollten die Teilnehmer nicht gehen. Sie schienen Gefallen daran gefunden zu haben, sich zu beschimpfen, zu empören. Priscilla hatte Monot am rechten Arm gegriffen, Saint-Croÿ beim linken, und promenierte die beiden von Gruppe zu Gruppe. Viviane hörte, wie ihr Assistent die einen und anderen beruhigte, sagte, dass man alles im historischen Kontext relativieren müsse, dass Shakespeare viel skandalöser und Musset viel obszöner gewesen sei.
Sie beobachtete und fühlte sich schrecklich fehl am Platz in diesem kleinen Kosmos. Die verschiedenen Medien überschrien einander, berauschten sich aneinander. Sie flüchtete mit der schmerzlichen Gewissheit, dass dieser Fall zu hoch für sie war.
Dienstag, 29 . Januar
» Wir werden uns etwas Neues einfallen lassen müssen«, kündigte Monot an. » Priscilla hat mir das Versprechen abgenommen, zur nächsten Pressekonferenz mit einem besonderen Leckerbissen zu kommen.«
Viviane warf ihrem Lieutenant böse Blicke zu: Er nannte die kleine Smet beim Vornamen, was fand er nur an ihr? » Na, wenn Sie Ihrer Priscilla das versprochen haben, dann gehen Sie ihn mal suchen, Ihren besonderen Leckerbissen. Was schlagen Sie vor?«
» Wir könnten eine grafologische Analyse des Sonetts in Auftrag geben, um mit der Hypothese von Baudelaire reinen Tisch zu schaffen. Ich habe mit Saint-Croÿ darüber gesprochen, der schien zunächst wenig begeistert. Dann hat er noch einmal angerufen, um uns einen handgeschriebenen Text von Baudelaire aus derselben Zeit anzubieten, um den Vergleich möglich zu machen.«
» Wunderbar, viel Spaß damit.«
Die Kommissarin machte sich über ihr Tagesgeschäft her. In der Nähe vom Bois de Vincennes waren zwei Prostituierte ermordet worden. Sie schickte Lieutenant Monot zusammen mit Wachtmeister Pétrel dorthin. Dann fuhr sie zum Quai des Orfèvres, um die Übergabe der Akten im Fall räuberischer Erpressung im chinesischen Viertel vorzubereiten. Das Leben nahm wieder seinen Lauf.
Mittwoch, 30 . Januar
Viviane probierte eine neue Diät aus, sie versuchte es mit der Trennkostmethode nach Demis Roussos. Voller Energie kam sie bei Durisly an, ihrem Kollegen von der 2. Abteilung der Pariser Kriminalpolizei, Rive Droite. Sie wollte sich austauschen, eine unvoreingenommene Meinung zur Sache mit dem Sonett hören. Durisly stand kurz vor der Pensionierung. Er hatte mit voranschreitendem Alter die Fähigkeit erworben zuzuhören, sprich, andere zum Reden zu bringen.
Nachdem sie alles losgeworden war, seufzte er. » Du bist mitten in eine Sammleraffäre geraten, und du tust mir leid. Die sind langwierig und kompliziert. Diese Leute sind Vampire, sie träumen davon, Berühmtheiten für sich zu vereinnahmen. Sie beginnen als Idealisten, bewundern einen berühmten Menschen, ergattern ein paar seltene Ausgaben. Nach und nach legen sie dann Hand auf Manuskripte, private Briefe ihrer Helden, auf Entwürfe und Haushaltsbücher. Sie werden zu furchtbaren
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