Tote Hunde beißen nicht: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
Hunde wuseln fiepend und unruhig um meine Beine, und meine Mutter dreht weiter am Rad.
«Als würde ich ständig etwas von dir wollen. Als würde ich euch nicht in Ruhe euer Leben führen lassen. Da würden sich andere Mütter schon fragen, was hat man da als Mutter falsch gemacht? Ist deine Mutter wirklich so unerträglich, dass es immer ‹falsch› ist, beim eigenen Sohn anzurufen?»
In dieser Form hat meine Mutter noch nie auf mich eingetrichtert. Natürlich nörgelt sie immer mal wieder herum, meist unterschwellig. Aber was ist denn das gerade, bitte?
So kenne ich sie wirklich nicht.
Klar, sie hätte gerne ein anderes Leben geführt als das einer Polizeipräsidentengattin. Aus einer schleswig-holsteinischen Pharmazeutenfamilie stammend, machte sie Mitte der sechziger Jahre ein Einser-Abitur, wollte nach Frankfurt, um Germanistik zu studieren, lernte dort während der Zimmersuche meinen Vater kennen und wurde schwanger – noch bevor das Semester begann. Da zogen sie eben zusammen, mein Vater studierte, meine Mutter blieb zu Hause, so wie man es eben damals als schwangere Frau machte. Sechs Jahre später kam noch ich dazu, und wir zogen kurz nach meiner Geburt in den Vogelsberg in das sehr dörfliche Dorf nach Schotten-Rudingshain.
Um meine Mutter herum gab es immer Bücher. Wann immer sie konnte, las sie. Beim Stillen las sie, beim Wickeln las sie, beim Kochen las sie, beim Putzen las sie, wenn mein Vater über den Polizeiberuf dozierte, las sie. Sie las eigentlich immer. Meine Schwester schwört bis zum heutigen Tag Stein und Bein, dass sie Thomas Mann gelesen habe, während sie uns gleichzeitig Tom Sawyer und Huckleberry Finn vorlas. Bricht sich da gerade ein unerfülltes Leben Bahn?
«Mutter», versuche ich sie zu besänftigen, «du tust mir da unrecht. Es ist
wirklich
gerade schlecht, ich …»
«Siehste!»
«Nein, nix siehste, wir stehen hier mit den Koffern im Zimmer und müssen nun auschecken. Ich rufe dich dann in einer Stunde an, dann …»
«In einer Stunde?», schreit sie nun. «Wie soll ich das denn aushalten?»
Inzwischen ist ihr Schreien nahtlos zum Heulen übergangen.
«Mutter, bitte, was ist denn eigentlich los?»
«Was los ist?»
«Ja!»
«Dein Vater ist verschwunden. Das ist los.»
Pause.
«Er ist was?»
«Verschwunden! Ich mache mir Sorgen! Er ist nicht von seinem Morgenspaziergang zurückgekehrt!»
Ich frage vorsichtig, ob es nicht möglich sei, dass er einfach eine etwas längere Runde läuft.
«Nein», schreit meine Mutter wieder. «So ein Quatsch, er geht seit zwanzig Jahren niemals morgens länger als eine knappe Stunde. Und nun ist er schon zwei Stunden weg!»
«Warum sagst du das denn nicht gleich?»
In diesem Moment beginne ich mir Sorgen zu machen. Vielleicht ist er zusammengebrochen, hat einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder beides erlitten.
«Ich wollte es dir ja gleich sagen. Aber bei dir war es ja gerade so ‹schlecht›! Dein Vater ist verschwunden, und ich muss bei meinem Sohn um zwei Minuten Gesprächszeit betteln.»
Ich versuche die letzte Bemerkung, so gut es geht, zu ignorieren.
«Es ist bestimmt was Schlimmes passiert», presst sie zitternd hervor, «Herzinfarkt oder Schlaganfall oder so.»
«Quatsch», belle ich. «Der kommt bestimmt gleich nach Hause. Hat sich bestimmt irgendwo verquatscht oder so …»
«Verquatscht? Dein Vater? Dein Vater soll sich verquatscht haben? Was für ein Quatsch! Da sieht man, wie gut du deine eigenen Eltern kennst. Du weißt doch gar nichts mehr über uns …»
«Natürlich», protestiere ich.
«Quatsch!», schreit meine Mutter und legt auf.
Inzwischen haben sich meine Kinder auf den Boden gesetzt und den Fernseher eingeschaltet. Es läuft eine Wiederholung des «Quatsch Comedy Club».
Was nun, Herr Bröhmann?
Ich weiß es nicht. Ich stehe stumm in der Hotellobby und weiß einfach nicht weiter. Die Hunde zerren an den Leinen, wollen raus, die Kinder stehen vor mir und blicken mich ermattet an. Sieht so also der Bröhmann’sche Stadturlaub aus? Sie tun mir leid, die beiden, und ich mir auch. Wir haben etwas anderes verdient. Wenn Laurin und Melina wenigstens herumnölen und über ihr Schicksal hadern würden, dann wäre es leichter für mich. Ich könnte auf etwas reagieren. Doch sie schonen mich, und das fühlt sich am schlimmsten an.
Jede Sekunde hoffe ich, dass mein Handy klingelt und meine Mutter mitteilt, dass er wieder heimgekehrt sei, der Herr Vater.
Melina nimmt das Zepter in die Hand.
Weitere Kostenlose Bücher