Tote Hunde beißen nicht: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
Hochvogelsberger souverän durch die Kurven steuere.
«Was soll ich merken?»
«Na, dass hier literarische Luft weht.»
Fragend schaut Kollege Meirich zu mir hinüber.
«Hier sind einmal Thomas Manns Kinder Klaus und Erika zur Schule gegangen.»
«Du willst mich verarschen!», entgegnet Markus.
«Nein, Anfang der zwanziger Jahre sind die beiden in die ‹Bergschule› gegangen. Das war ein reformpädagogisches Internat. Sie haben’s allerdings nur drei Monate oder so durchgehalten.»
Markus Meirich zeigt sich beeindruckt. Zu Recht. Vollkommen zu Recht!
Dass Klaus Mann allerdings später in seiner Autobiographie die Nazi-Einstellungen vieler seiner Mitschüler beklagte, verschweige ich. Nicht aber, dass er die Landschaft als «herb idyllisch» beschrieb. Von meinem eigenen Fachwissen beeindruckt, verpasse ich die nächste Abbiegung.
In ebendiesem Hochwaldhausen treffen wir Frau Dr. Michaela Claus, die vor zwanzig Jahren Kirsten Grubers beste Freundin gewesen sein soll. Wir verabredeten uns mit ihr in der Vogelsbergklinik, in der sie als Ärztin arbeitet. Eine halbe Stunde, sagte sie am Telefon, könne sie sich gerne so kurzfristig für uns freinehmen.
Michaela Claus, eine schlanke, attraktive Frau mit zu einem Pferdeschwanz gebundenem dunkelblondem Haar, begrüßt uns freundlich und lässt uns in einem Besprechungszimmer der Klinik Platz nehmen.
Wir kommen schnell zur Sache und fragen, was ihr zu Maik Fichtenau einfalle und ob sie etwas über seine damalige Beziehung zu Kirsten Gruber erzählen könne.
«Das war alles so furchtbar, ein Schock, eine Tragödie», sagt sie fast im Flüsterton. «Kirsten war sehr introvertiert, sehr ruhig und sehr eigen. Ich mochte sie, weil sie irgendwie anders war. Richtig anvertraut hatte sie sich mir allerdings auch nicht. Und als sie mit dem jungen Fichtenau zusammenkam, brach der Kontakt mehr oder weniger ganz ab.»
Michaela Claus hält inne, zieht sich die Brille von der Nase und bemüht sich, noch tiefer in ihre Jugenderinnerungen einzutauchen.
«Fällt Ihnen noch etwas zu ihrem Bruder ein?», fragt Markus.
«Dem Jochen, oh ja. Vor dem hatte sie Angst. Das weiß ich noch, immer wenn der in ihre Nähe zu kommen drohte, verließ sie den Ort. Manchmal, wenn ich bei ihr zu Besuch war, war es wie ein Spiel, vor ihm wegzulaufen. Ich hatte auch ein bisschen Angst vor ihm. Was macht der heute?»
Ich antworte, dass er die Schreinerei seines Vaters übernommen habe.
«Ach du liebe Güte», rutscht es ihr heraus.
«Glauben Sie, dass er ihr etwas angetan haben könnte?», frage ich.
Nun schweigt Michaela Claus wieder eine längere Zeit.
«Ich glaube, dass sie geschlagen wurde. Sie hatte oft blaue Flecken oder Ähnliches. Sie hat dazu aber nie etwas gesagt. Und ich habe auch nicht weiter drüber nachgedacht, wenn ich ehrlich bin.»
In der noch verbleibenden Zeit erfahren wir, dass Kirsten stark in Maik verliebt gewesen sein soll und dass dieser sie nahezu vergöttert habe. Kirsten habe die Verehrung genossen, und die beiden hätten in ihrer seltsamen Verschrobenheit auch bestens zueinander gepasst. Jedenfalls hätte Frau Dr. Claus eine solche Tat Maik Fichtenau niemals zugetraut.
Als wir fünf Minuten später im Auto sitzen und uns über die laufenden Ermittlungen austauschen, frage ich mich, ob wir nicht schon längst vordergründig dabei sind, einen zwanzig Jahre alten Mordfall aufzuklären. Eine Arbeit, die damals mein Vater hätte machen müssen. Mein Vater, der vermutlich nicht einmal mehr als Leiche aufzufinden sein wird.
Ich schlage Markus vor, auf halber Strecke zurück nach Alsfeld bei mir zu Hause ein kleines Kaffeepäuschen einzulegen. Außerdem könnten wir uns dort schon einmal durch die Jochen-Gruber-Errungenschaften ackern.
In meiner Doppelhaushälfte angekommen, öffne ich die Tür und traue meinen Augen nicht. Der Flur ist komplett aufgeräumt, alle Jacken hängen sortiert an der Garderobe, die Schuhe stehen in Reih und Glied, und der Fußboden ist blank geputzt.
«Das gibt’s doch nicht», murmle ich und werfe auch in Küche und Wohnzimmer einen Blick. Es ist nicht zu fassen. Alles ist nahezu zwanghaft aufgeräumt. Selbst die Fenster sind geputzt. Das erste Mal seit zwei Jahren. Ich plärre laut nach Melina, erhalte aber keine Antwort. Auch die Kinderzimmer sind nicht wiederzuerkennen, und im Schlafzimmer wurde mein Bett gemacht. Das letzte Mal, dass ich mich daran erinnern kann, ein Bett gemacht zu haben, muss zu der Zeit gewesen sein,
Weitere Kostenlose Bücher