Totenacker
würde eine Mutter von ihrem Kind fernhalten? Welcher Arzt war das gewesen? Und warum hatte er das getan?
Dann hatte eine Nonne der Mutter mitgeteilt, Rosel sei am Nachmittag des 26. September an der Krankheit gestorben und in die Leichenhalle gebracht worden, nur kurze Zeit vor dem ersten Großangriff auf die Stadt. Dort sei sie verschüttet worden und nicht mehr zu bergen gewesen.
Das konnte nicht stimmen, das hatte ja auch schon Bernie bemerkt. Denn wie sollte die Kleine in das Massengrab am Opschlag gekommen sein, in den Bombentrichter, der dort am 26. September entstanden war? Zusammen mir sieben anderen, alle versehrt oder behindert, aber alle beim Bombenangriff unverletzt geblieben.
Hatte die Nonne wissentlich gelogen? Das würde bedeuten, dass 1944 im Krankenhaus ein grausames Komplott geschmiedet worden war. Aber das konnte und wollte Cox sich nicht vorstellen.
Am Donnerstag war im Stern ein großer Artikel über das Massengrab aus der Nazizeit erschienen, zwölf Seiten mit Fotos von Lis und Lisken, Rosel Claassen auf der Sommerwiese, den Gesichtsrekonstruktionen. Seitdem hatten sich über hundert Leute beim LKA gemeldet, die glaubten, Hinweise zu den noch nicht identifizierten Toten geben zu können, die meisten zu den beiden Jungen mit Down-Syndrom.
«Alles Bullshit», beschied der Kollege, ein grobschlächtiger Mann, den Cox auf Anhieb nicht mochte.
«Aber ich habe etwas anderes für euch, die Frau mit dem Riesenwuchs am Bein, Moment …» Er blätterte in seinen Unterlagen. «Euer Pathologe hat das … ja, hier steht’s: ‹eine Frau, noch keine zwanzig Jahre alt, mit Klippel-Tréaunay-Weber-Syndrom›. Offenbar wohl eine seltene Missbildung, die auch heute noch nicht ganz erforscht ist. Jedenfalls hat sich ein Professor aus Tübingen gemeldet, dem eine Arbeit aus den dreißiger Jahren vorliegt. Unter den Kranken, die damals in die Studie aufgenommen wurden, ist jemand aufgeführt mit ‹G. L., weiblich, Jahrgang 1927, geboren und wohnhaft in Kleve›.» Er drückte Cox den Zettel in die Hand. «Vielleicht kommt ihr damit ja weiter.»
Cox bezweifelte das, bedankte sich aber höflich und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er zwei Querstraßen weiter hatte parken müssen.
Das neue GPS, das Penny ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, hielt, was die Werbung versprochen hatte, und brachte ihn auf schnellstem Weg aufs Unigelände. Hier fand er auf Anhieb einen Parkplatz, brauchte dann aber fast zwanzig Minuten, bis er das richtige Gebäude gefunden und sich zum Archiv durchgefragt hatte.
Der nette Student, mit dem er schon ein paarmal telefoniert hatte, wartete schon auf ihn.
«Wir sind fertig mit der Archivierung, aber kein Reiter», meinte er bedauernd, «das habe ich Ihnen ja schon am Telefon gesagt. Und ich hätte dessen Dissertation wirklich gern gefunden, besonders nachdem ich den Zeitschriftenartikel gelesen hatte. Aber eine Hoffnung gibt es noch, kommen Sie mal mit.»
Cox folgte ihm in den Keller hinunter.
«Ich würde Ihnen gern noch weiterhelfen, aber mein Job hier ist abgelaufen. Eigentlich dürfte ich gar nicht mehr hier sein, aber ich wollte Sie gern kennenlernen, deshalb habe ich darum gebeten, Sie hierherbringen zu dürfen.»
Er öffnete eine Tür und schaltete das Licht ein, ein quadratischer Raum mit deckenhohen Regalen an drei Seiten voller Kladden und vergilbten Papierstapeln.
«Hier lagern alle Arbeiten, die seit den Anfängen der Medizinischen Fakultät abgelehnt oder gar nicht erst angenommen wurden.»
Cox ging hinein, der Raum war klimatisiert, die Luft angenehm frisch.
«Ich nehme an, hier wurde noch nichts geordnet.»
«Das kann man so nicht sagen», antwortete der Student. «Für mich sieht es so aus, als hätten sich über die Jahre verschiedene Leute daran versucht, ein Teil ist nach Jahreszahlen sortiert, ein anderer nach den Namen der Verfasser oder der Doktorväter, einiges nach Themenbereichen …»
Cox spürte ein angenehmes Kribbeln, dies hier war eine Arbeit nach seinem Geschmack.
«Das könnte allerdings ein paar Tage dauern», murmelte er. Reiter, Zirkel als Doktorvater, Tierversuche, eingereicht in den Vierzigern …
«Ich habe alles für Sie geregelt. Sie haben jederzeit Zutritt. Wir müssen nur eben zusammen zum Pförtner, wo Sie sich ausweisen müssen. Dann bekommen Sie eine Schlüsselkarte.»
Van Gemmern kam früh.
Er sah nicht mehr ganz so schlecht aus, also hatte er sich wohl tatsächlich ausgeschlafen.
Heute setzte er sich
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