Totenbeschwörung
beziehungsweise was der letzte Akt hätte sein sollen – ereignete, befand sich das Leichenschauhaus. Eigentlich handelte es sich um einen Anbau, der die Wache mit einem alten, noch aus Ziegelsteinen errichteten Krankenhaus aus Viktorianischer Zeit verband und von beiden Einrichtungen gleichermaßen genutzt wurde. Nachdem die Polizisten wieder Herr der Lage waren, wurden die Leichen von John und Prentiss dorthin geschafft. Durch diesen simplen Akt – indem sie die beiden Toten im selben Kühlhaus deponierten – entstand die Albtraumzone.
In jener Nacht hatten außer dem wachhabenden Sergeant noch zwei Mann Bereitschaft, ein Streifenwagen war im Einsatz und natürlich war die Funkleitstelle besetzt. Es war kein sehr großes Revier. In einer Ecke des Vernehmungszimmers schlief ein alter Landstreicher, der ohnehin nicht wusste wohin, seinen Rausch aus. Alles in allem war nicht viel los. Es war ruhig und das war auch nicht weiter verwunderlich, schließlich war es ein Mittwochabend mitten im Winter und die Straßen wie leer gefegt.
Nachdem der Papierkram erledigt war, setzte sich der Sergeant zu den beiden, die Bereitschaft hatten, und sie spielten eine Runde Karten. Langsam wurde es Mitternacht. Und da fing es an!
Zunächst sank die Temperatur. Keiner konnte sich das erklären. Draußen war es zwar bitterkalt, aber die Zentralheizung war voll aufgedreht. Wie es schien, kam die Kälte vom rückwärtigen Teil des Gebäudes, aus dem breiten, gefliesten Gang, von dem die Zellen abzweigten. Er wirkte wie ein Tunnel und ganz hinten gab es eine Tür, durch die man ins Leichenschauhaus gelangte, und auf der anderen Seite eine weitere, die in den Keller des Krankenhauses führte. Um diese Zeit waren beide abgeschlossen und normalerweise blieb das auch so bis zum nächsten Morgen – es sei denn, es ereignete sich etwas Außergewöhnliches.
Nun, die Männer nahmen an, dass mit den Kühlaggregaten etwas nicht stimmte. Womöglich gab es irgendwo ein Leck, aus dem Kaltluft in den Flur entwich. Doch noch ehe der Wachhabende und seine beiden Beamten nachsehen konnten, bemerkten sie erste Anzeichen dafür, dass etwas ganz und gar schieflief – und zwar nicht nur mit der Kühlanlage. Und dann hörten sie es!
Zunächst fingen die Wände an zu vibrieren, als würde ein ganzer Konvoi von Sattelschleppern vorüberfahren. Die Fahndungsplakate und Bekanntmachungen fielen von den Wänden, in den Ablagen und auf dem Schreibtisch tanzten die Dokumente hin und her, die Spielkarten rutschten über den grünen Samt des kleinen Klapptischchens und die Jalousien vor den Fenstern ruckten hoch und wieder herunter, als versuche irgendein Trottel damit zurechtzukommen und schaffte es nicht. Es war wie bei einem Erdbeben und vielleicht war es auch eins ...
Nun, und das entfernte, dumpfe Stöhnen und Keuchen, Heulen und Pochen, das hinter der verschlossenen Tür der Leichenhalle zu vernehmen war, mochte der Wind sein, der durch den Kamin pfiff. Vielleicht handelte es sich auch um die Schreie der Schwerstkranken, die durch das alte Gemäuer des Hospitals hallten und sich hier unten brachen. Doch insgesamt gesehen waren es viel zu viele Vielleichts, und so griff der Sergeant schließlich nach seinen Schlüsseln und ging nachsehen – allein!
Ich habe die Berichte wieder und wieder gelesen und bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was den Sergeant um den Verstand und ins Irrenhaus brachte und letztlich dazu führte, dass er seinen Abschied nehmen musste. Die Akten sprechen von Vandalismus und einer makabren Zerstörungswut Jugendlicher. Aber nachdem die Geräusche aus dem Leichenschauhaus immer lauter geworden waren und dann plötzlich aufhörten, sahen die beiden Beamten der Einsatzbereitschaft die ganze Bescherung mit eigenen Augen. Zu dem Zeitpunkt kicherte der Sergeant nur noch wie ein kleines Mädchen leise vor sich hin.
Langsam und vorsichtig gingen die beiden den gefliesten Gang zwischen den Zellen entlang, passierten die offene Tür zum Leichenschauhaus und stießen auf den Sergeant, der inmitten eines Trümmerhaufens herumstolperte. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Er deutete auf das Durcheinander und stammelte wie ein Irrer immer wieder dasselbe. Rings um ihn herrschte das reinste Chaos.
Ein Großteil der Kühlfächer war aufgerissen worden, ihr Inhalt lag in grotesken Haltungen kreuz und quer auf den Bodenfliesen verstreut. Irgendein Verrückter hatte Leiche für Leiche herausgezerrt und sie dann achtlos fallen lassen, so, als
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