Totenbuch
ist?«
»Wir kennen den Namen der
Bewohnerin, den ich Ihnen jedoch nicht verraten werde. Zufällig ist sie nicht
zu Hause. Ihr Hund und ihr Auto sind fort.«
»Ihr Auto ist fort?« Madelisas
Unterlippe beginnt zu zittern.
»Offenbar ist sie weggefahren
und hat den Hund mitgenommen, meinen Sie nicht? Und wissen Sie, was ich
glaube? Sie haben aus lauter Neugier in der Villa herumgeschnüffelt und hatten
anschließend Angst, jemand könnte Sie beim Hausfriedensbruch beobachtet haben.
Und um keinen Ärger zu bekommen, haben Sie sich dieses alberne Märchen
ausgedacht. Jetzt halten Sie sich wohl für sehr schlau.«
»Sie sollten sich die Mühe
machen, sich genauer im Haus umzuschauen. Dann werden Sie sehen, dass ich
recht habe.« Madelisas Stimme zittert.
»Das wurde bereits erledigt,
Ma'am. Ich habe einige Kollegen hingeschickt. Aber von den Dingen, die Sie
angeblich bemerkt haben wollen, gibt es keine Spur. Im Fenster neben der Tür
zur Waschküche fehlt keine Scheibe. Nirgendwo Glasscherben, Blut oder Messer.
Der Gasgrill war abgeschaltet und blitzsauber. Kein Hinweis darauf, dass dort
vor kurzem etwas gebraten worden war. Und der Projektor lief auch nicht«,
verkündet er.
Scarpetta sitzt in dem
Besprechungszimmer, wo Hollings und seine Mitarbeiter sonst die trauernden
Familien empfangen. Sie hat sich auf einem Sofa mit blassgoldenen und
cremefarbenen Streifen niedergelassen und blättert nun schon das zweite Gästebuch
durch.
Wenn ihr bisheriger Eindruck sie
nicht trügt, ist Hollings ein Mann mit Stil und Geschmack. Seine dicken
Gästebücher sind in teures schwarzes Leder gebunden und haben cremefarbene
linierte Seiten. Offenbar laufen seine Geschäfte gut, denn er braucht drei bis
vier Bücher im Jahr. Die langwierige Überprüfung der ersten vier Monate des
vergangenen Jahres hat keine Hinweise darauf ergeben, dass Gianni Lupano hier
eine Beerdigung besucht hat.
Sie greift zum nächsten
Gästebuch und macht sich daran, es durchzuarbeiten. Als sie mit dem Finger
Seite um Seite hinunterfährt, erkennt sie die Namen alteingesessener
Charlestoner Familien. Von Januar bis März kein Gianni Lupano. Auch im April
keine Spur von ihm. Scarpettas Enttäuschung wächst. Auch nichts im Mai und im
Juni. Da stoppt ihr Finger bei einer ausladenden, schwungvollen Unterschrift,
die sich mühelos entziffern lässt. Am 12. Juli letzten Jahres ist Gianni Lupano offenbar Gast auf der
Beerdigung einer gewissen Holly Webster gewesen. Anscheinend war die
Trauergemeinde nur klein - lediglich elf Personen haben im Gästebuch
unterschrieben. Scarpetta notiert sich sämtliche Namen und steht auf. Sie geht
an der Kapelle vorbei, wo zwei Frauen Blumen rings um einen Sarg aus polierter
Bronze drapieren. Eine Mahagonitreppe bringt sie zurück in Henry Hollings'
Büro. Wieder sitzt er mit dem Rücken zur Tür und telefoniert.
»Manche Menschen bevorzugen es,
die Flagge zu einem Dreieck zu falten und sie hinter den Kopf des Verstorbenen
zu legen«, meint er in seinem beruhigenden, melodischen Tonfall. »Aber natürlich
können wir sie auch über den Sarg breiten. Was ich empfehlen würde?« Er hält
ein Blatt Papier hoch. »Wie ich sehe, tendieren Sie zur Walnussausführung mit
champagnerfarbenem Satinfutter. Doch auch die Stahlausführung ... Natürlich
verstehe ich. Das sagt jeder ... Es ist sehr schwer. Und selbstverständlich
fallen Entscheidungen wie diese niemandem leicht. Wenn Sie meine ehrliche
Meinung hören wollen, würde ich Stahl nehmen.«
Er telefoniert noch eine
Zeitlang, dreht sich um und sieht Scarpetta in der Tür stehen. »Manchmal ist
man wirklich ratlos«, sagt er. »Ein zweiundsiebzigjähriger Kriegsveteran. Hat
vor kurzem seine Frau verloren, ist darüber depressiv geworden und hat sich
mit einer Schrotflinte in den Mund geschossen. Wir haben zwar getan, was wir
konnten, doch alle Kosmetik und Wiederherstellungskunst der Welt reicht nicht,
um ihn vorzeigbar zu machen. Sicher wissen Sie, was ich meine. Unmöglich, ihn
im offenen Sarg aufzubahren, aber die Familie will das einfach nicht einsehen.«
»Wer war Holly Webster?«, fragt
Scarpetta.
»Eine schreckliche Tragödie«,
erwidert Hollings, ohne zu zögern. »Es gibt Fälle, die man nie vergisst.«
»Erinnern Sie sich, ob Gianni
Lupano bei der Beerdigung war?«
»Damals kannte ich ihn noch
nicht«, erwidert er zu ihrem Erstaunen.
»War er ein Freund der Familie?«
Hollings steht auf, öffnet die
Schublade eines Schranks aus Kirschholz, blättert einige Akten
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