Totenbuch
nach Rom abgereist ist, hatten wir
noch nie etwas vom Sandman gehört.«
»Ein guter Einwand«, meint
Benton. »Außerdem wäre da noch die Tatsache, dass die Akte gefälscht ist. Ja,
wir haben es eindeutig mit einer Fälschung zu tun, denn Paolo hat diesen Text
geschrieben, kurz bevor er nach Rom geflogen ist, und zwar am 27. April, also dem Tag, an dem Dr. Seif
ins McLean Hospital aufgenommen wurde - um genau zu sein, erst wenige Stunden
vor ihrer Ankunft. Da bin ich mir verhältnismäßig sicher, weil Paolo zwar
seinen Papierkorb geleert hat, doch auch diese Dateien nicht vollständig
löschen konnte. Josh hat sie ebenfalls wiederhergestellt.«
Benton öffnet eine weitere
Datei, diesmal einen Rohentwurf der Anmerkungen, die Scarpetta bereits kennt -
nur dass die Initialen des Patienten hier nicht MS, sondern WR lauten.
»Ich habe ganz den Eindruck,
dass Dr. Seif sich mit Paolo in Verbindung gesetzt hat. Davon müssen wir schon
allein deshalb ausgehen, weil sie schließlich nicht aus heiterem Himmel im
Krankenhaus auftauchen konnte. Anscheinend hat sie ihm am Telefon etwas
mitgeteilt, das ihn dazu veranlasst hat, diese Notizen zu verfassen«, stellt
Scarpetta fest.
»Die Initialen des Patienten im
Dateinamen sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Unterlagen gefälscht sind«,
ergänzt Benton. »Eine Datei so zu benennen, verstößt nämlich gegen die
Vorschrif ten. Und selbst wenn man die Regeln und den gesunden
Menschenverstand in den Wind schlägt, ergibt es keinen Sinn, diese Patienten-Initialen
anschließend wieder zu ändern. Welchen Grund kann er gehabt haben, dem
Patienten einen anderen Namen zu geben? Wozu ein Pseudonym? Ich habe Paolo
immer für einen klugen Mann gehalten.«
»Vielleicht existiert der
Patient ja gar nicht«, wendet Scarpetta ein.
»Weißt du jetzt, worauf ich die
ganze Zeit hinauswill?«, entgegnet Benton. »Meiner Ansicht nach war der
Sandman niemals bei Paolo in Behandlung.«
20
Als Scarpetta kurz vor zehn das
Haus betritt, in dem Rose wohnt, ist Ed, der Portier, nirgendwo zu sehen. Es
nieselt, der dichte Nebel lüftet sich, und die Wolken rasen über den Himmel,
während die Schlechtwetterfront aufs Meer hinauszieht.
Sie geht in Eds Büro und sieht
sich um. Auf dem Schreibtisch kann sie nur ein Rolodex, ein Notizbuch mit der
Aufschrift Bewohner, einen Stapel ungeöffneter Briefe
- an Ed und seine Kollegen addressiert —, einige Stifte, einen Hefter und
persönliche Gegenstände wie eine Plakette mit eingelassener Uhr, eine
Anglertrophäe, ein Mobiltelefon, einen Schlüsselring und eine Brieftasche
erkennen. Sie untersucht die Brieftasche. Sie gehört Ed. Offenbar ist er heute
Abend nur mit drei Dollar in der Tasche zum Dienst angetreten.
Scarpetta schaut links und
rechts den Flur entlang: kein Ed. Also kehrt sie ins Büro zurück und blättert das
Buch mit der Aufschrift Bewohner durch, bis sie weiß, dass Gianni
Lupanos Wohnung im obersten Stockwerk liegt. Sie fährt mit dem Aufzug nach oben
und lauscht an der Tür. Drinnen spielt gedämpfte Musik. Als sie läutet, hört
sie, dass sich drinnen jemand bewegt. Schritte ertönen. Dann öffnet sich die
Tür, und Scarpetta steht vor Ed.
»Wo ist Gianni Lupano?« Sie
schiebt sich an ihm vorbei. Aus im Raum verteilten Lautsprechern klingt
Santana.
Durch das offene
Wohnzimmerfenster weht Wind herein.
Eds Augen sind vor Angst
geweitet, und seine Worte überschlagen sich. »Ich weiß nicht, was ich tun
soll. Eine Tragödie. Ich verstehe das nicht.«
Scarpetta blickt aus dem offenen
Fenster. Als sie hinunterspäht, kann sie in der Dunkelheit nur dichtes Gebüsch,
den Gehweg und die Straße ausmachen. Sie tritt zurück und lässt den Blick durch
die luxuriöse, mit Marmor, pastellfarbenem Putz, eleganten Stuckdecken,
italienischen Ledermöbeln und moderner Kunst ausgestattete Wohnung schweifen.
In den Regalen stehen antike, geschmackvoll gebundene Bücher, vermutlich von
einem Innenarchitekten nach laufendem Meter gekauft. Eine andere Wand wird von
einem Heimkino und einer Stereoanlage eingenommen, die viel zu groß für den
Raum sind.
»Was ist passiert?«, wendet sie
sich an Ed.
»Er hat mich vor etwa zwanzig
Minuten angerufen«, antwortet dieser aufgeregt. »Hey,
Ed, haben Sie mein Auto angelassen?, hat er sich erkundigt. Ja,
warum wollen Sie das wissen?, habe ich gesagt. Ich war ziemlich nervös deswegen.«
Scarpetta bemerkt etwa sechs
Tennisschläger, die in ihren Taschen an der Wand hinter dem Sofa lehnen.
Daneben
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