Totenbuch
aus dem Weg gegangen, hast deinen Besuch in
Charleston nicht angekündigt und mich kaum noch angerufen.«
»Ich bin dir nicht aus dem Weg
gegangen. Wo soll ich anfangen? Es gibt so viel zu sagen.“
»Was denn sonst noch?«
»Wir hatten eine Patientin«,
beginnt er. »Dr. Seif hat sich mit ihr angefreundet, wenn man das überhaupt so
nennen kann. Jedenfalls hat sie diese Patientin als geistesschwach bezeichnet,
und wenn so etwas von Dr. Seif kommt, ist das keine Beschimpfung oder ein
Scherz, sondern ein Urteil. Eine Diagnose. Kurz darauf wurde die Patientin nach
Hause entlassen, wo sie keine Ansprache hatte. Ihr erster Weg führte in den
nächstbesten Schnapsladen. Offenbar hat sie fast eine ganze Flasche Wodka
getrunken und sich dann aufgehängt. Es ist so vieles geschehen, von dem du nichts
weißt. Deshalb war ich in letzter Zeit so abwesend und habe kaum mit dir gesprochen.«
Er klappt seinen Aktenkoffer auf
und holt den Laptop heraus.
»Ich habe es vermieden, die
Telefone im Krankenhaus oder WLAN zu benutzen und bin überhaupt sehr vorsichtig gewesen.
Sogar zu Hause. Auch ein Grund, warum ich dort wegwollte. Jetzt interessiert
dich sicher, was los ist, aber ich muss dir leider sagen, dass ich selbst im
Dunkeln tappe. Sicher hat es etwas mit Paolos elektronisch gespeicherten
Patientenakten zu tun. Denen, in die Lucy sich einhacken konnte. Allerdings
hätte das jeder X-Beliebige geschafft, weil er sie unzureichend gesichert
hatte.«
»Jedoch nur, wenn derjenige
weiß, wo er nachschauen muss. Lucy ist schließlich nicht jeder X-Beliebige.«
»Auch ihre Möglichkeiten waren
begrenzt, weil sie sich über das Netzwerk in seinen Computer einloggen musste,
anstatt Zugriff zum Gerät selbst zu
haben.« Benton schaltet seinen Laptop an und steckt eine CD ins Laufwerk. »Rück
näher.«
Scarpetta rückt ihren Stuhl neben seinen und blickt
ihm über die Schulter. Ein Text erscheint auf dem Bildschirm.
»Dieses Dokument haben wir uns doch bereits
angesehen!«, sagt sie, als sie die von Lucy aufgestöberte Datei erkennt.
»Stimmt nicht ganz«, widerspricht Benton. »Mit
allem Respekt vor Lucy habe auch ich Kontakt zu einigen fähigen Leuten. Nicht
so genial wie sie vielleicht, aber für den Notfall genügt es. Was du hier vor
dir hast, ist eine Datei, die gelöscht und dann wiederhergestellt wurde. Es
handelt sich nicht um den Text, den Lucy dir gezeigt hat, nachdem sie Josh das
Passwort des Systemadministrators entlocken konnte. Diese Datei ist eine von
vielen Kopien und um einiges später entstanden.«
Scarpetta blättert die Seite hinunter und studiert
sie. »Ich kann keinen Unterschied feststellen.«
»Es ist auch nicht der Textinhalt, der sich
verändert hat, sondern das hier.« Er tippt auf den Dateinamen am oberen
Bildschirmrand. »Fällt dir dasselbe auf wie mir, als Josh mich darauf
aufmerksam gemacht hat?«
»Hoffentlich kannst du Josh vertrauen.«
»Kann ich, und zwar aus gutem Grund. Er hat nämlich
ebenso wie Lucy etwas Verbotenes getan. Die beiden sind unverbesserlich. Zum
Glück arbeiten sie Hand in Hand. Außerdem hat er ihr die kleine Schwindelei
inzwischen verziehen. Er war sogar beeindruckt.«
»Der Dateiname lautet MSNOT-21-10-0-6«, stellt
Scarpetta fest. »Wie ich annehme, handelt es sich bei MS um die Initialen des
Patienten und die Notizen, die Dr. Maroni sich zu ihm gemacht hat. 21-10-0-6
steht für den 21. Oktober 2006.«
»Richtig. Die Datei heißt MSNOT.« Wieder berührt
Benton den Bildschirm. »Die Datei wurde mehrfach kopiert. Dabei wurde versehentlich
der Name geändert. Ein Tippfehler vielleicht. So ähnlich muss es gewesen sein.
Möglicherweise ist es auch absichtlich passiert, damit die ursprüngliche
Version nicht überschrieben wurde.
Ich mache das manchmal so, wenn
ich den Entwurf noch behalten möchte. Das Interessante daran ist, dass Josh
sämtliche Dateien, die sich auf den fraglichen Patienten beziehen,
wiederhergestellt und dabei herausgefunden hat, dass die erste Version vor zwei
Wochen entstanden ist.«
»Könnte es sich nicht auch um
die erste Version handeln, die er auf dieser speziellen Festplatte gespeichert
hat?«, mutmaßt Scarpetta. »Er könnte die Datei auch vor zwei Wochen geöffnet
und sie dann gesichert haben, wodurch sich der Datumsstempel geändert hätte.
Allerdings beantwortet das nicht die Frage, warum er sich seine Aufzeichnungen
angesehen hat, bevor wir ihn überhaupt darauf angesprochen haben, dass der
Sandman sein Patient war. Als Dr. Maroni
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