Totenbuch
sagt Ed.
Scarpetta macht den Sanitätern
mit ihrer Trage und ihren Gerätschaften Platz. Sie marschieren zur Hausecke,
um von dort aus hinter die Hecke zu schlüpfen, anstatt sich auf direktem Wege
durchs Geäst zu arbeiten.
»Ihre Brieftasche liegt auf dem
Schreibtisch. Und die Tür steht sperrangelweit offen. Machen Sie das immer
so?«, erkundigt sich Scarpetta bei Ed.
»Können wir drinnen
weiterreden?«
»Wir wollen zuerst unsere
Aussage bei der Polizei machen«, antwortet sie. »Dann können wir reingehen.«
Sie bemerkt eine Frau im
Morgenmantel, die auf sie zueilt. Sie kommt ihr vertraut vor, und bald wird ihr
klar, dass es Rose ist. Scarpetta läuft auf sie zu.
»Nicht näher kommen«, warnt sie.
»Als ob man mich noch
schockieren könnte.« Rose blickt hinauf zum erleuchteten Fenster. »Das war
seine Wohnung, oder?“
»Von wem?«
»Was ist nach diesen Ereignissen
anderes zu erwarten?« Sie hustet und holt tief Luft. »Ihm ist doch nichts
geblieben.“
»Aber warum ausgerechnet jetzt?«
»Vielleicht war Lydia Webster
der Anlass. Es kam überall in den Nachrichten. Wir beide wissen, dass sie tot
ist«, entgegnet Rose.
Scarpetta lässt sie reden und
stellt sich dabei einige Fragen: Was bringt Rose auf den Gedanken, dass Lupano
von Lydia Websters Schicksal betroffen sein könnte? Und woher weiß sie, dass er
tot ist?
»Ich fand, dass er ziemlich
überzeugt von sich war«, sagt Rose und starrt auf das dunkle Gebüsch unter dem
Fenster.
»Mir war gar nicht klar, dass
Sie ihn kannten.«
»Ich habe ihn nur einmal
getroffen und wusste gar nicht, wer er ist, bevor Ed es mir erzählt hat. Er
sprach mit Ed im Büro. Es ist schon ziemlich lange her. Er wirkte ziemlich
ungehobelt, sodass ich ihn zuerst für einen Handwerker gehalten habe. Ich hatte
keine Ahnung, dass er Drew Martins Trainer war.«
Als Scarpetta den dunklen Gehweg
entlangblickt, stellt sie fest, dass Ed bereits mit dem Detective spricht. Die
Sanitäter schieben die Trage in den Krankenwagen. Blaulichter zucken.
Polizisten suchen die Umgebung mit der Taschenlampe ab.
»Einem Talent wie Drew Martin
begegnet man nur einmal im Leben. Was ist ihm noch geblieben?«, wiederholt
Rose. »Wahrscheinlich gar nichts. Menschen sterben, wenn es sich für sie nicht
mehr zu leben lohnt. Ich habe vollstes Verständnis dafür.«
»Kommen Sie. Sie sollten nicht
hier draußen in der Nässe herumstehen. Ich bringe Sie ins Haus«, schlägt
Scarpetta vor.
Sie biegen gerade um die Ecke,
als Henry Hollings die Vortreppe hinunterläuft. Ohne sie eines Blickes zu
würdigen, geht er zielstrebig und raschen Schrittes weiter. Scarpetta schaut
ihm nach, bis er am Deich an der East Bay Street in der Dunkelheit nicht mehr
zu sehen ist.
»War er schon vor der Polizei da?«,
wundert sich Scarpetta.
»Er wohnt nur fünf Minuten von
hier«, antwortet Rose. »Er besitzt ein großes Anwesen an der Battery.«
Scarpetta starrt weiter in die
Richtung, wo Hollings verschwunden ist. Die beiden beleuchteten Schiffe am
Hafenrand wirken wie aus gelben Legosteinen zusammengesetzt. Allmählich klart
es auf, sodass sie einige Sterne erkennen kann. Scarpetta spricht Rose nicht
darauf an, wie merkwürdig sie es findet, dass der Leichenbeschauer von
Charleston County gerade an einem Verstorbenen vorbeigegangen ist, ohne ihn
sich anzusehen. Er hat den Mann weder für tot erklärt noch sonst seines Amtes
gewaltet. Sie steigt mit Rose in den Aufzug. Rose gelingt es nicht, zu
verbergen, dass sie im Moment nicht den geringsten Wert auf Scarpettas Gesellschaft
legt.
»Es geht mir gut«, verkündet sie
und hält den Arm in die Lichtschranke der Lifttüren, ohne sich von der Stelle
zu rühren. »Jetzt lege ich mir wieder ins Bett. Sicher will die Polizei mit
Ihnen sprechen.«
»Es ist nicht mein Fall.«
»Man will immer mit Ihnen
sprechen.«
»Erst nachdem ich Sie
wohlbehalten in Ihre Wohnung begleitet habe.«
»Vielleicht hat er angenommen,
dass Sie sich darum kümmern werden, weil Sie nun schon einmal hier sind«, sagt
Rose. Sie nimmt ihren Arm aus der Lichtschranke. Die Türen schließen sich. Scarpetta
drückt den Knopf für Roses Etage.
»Meinen Sie den
Leichenbeschauer?« Und dabei hat Scarpetta sich doch eigens die Bemerkung
verkniffen, warum Hollings sich so einfach aus dem Staub gemacht hat.
Rose ist zu sehr außer Atem, um
etwas zu sagen, als sie den Flur zu ihrer Wohnung entlanggehen. Vor der Tür
tätschelt sie Scarpettas Arm.
»Schließen Sie auf, dann bin ich
weg«, sagt
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