Totenbuch
Scarpetta.
Rose holt den Schlüssel heraus.
Offenbar möchte sie die Tür nicht in Scarpettas Gegenwart öffnen.
»Los, rein mit ihnen«, fordert
Scarpetta sie auf.
Rose rührt sich nicht. Doch mit
ihrem Herumgedruckse weckt sie nur Scarpettas Neugier. Zu guter Letzt nimmt
Scarpetta ihr den Schlüssel aus der Hand und öffnet die Tür. Zwei Sessel stehen
am Fenster mit Blick auf den Hafen. Dazwischen sieht sie einen Tisch mit zwei
Weingläsern und einer Schale voller Nüsse.
»Der Mann, mit dem Sie sich
treffen«, stellt Scarpetta fest und tritt unaufgefordert ein, »ist Henry
Hollings.« Sie zieht die Tür zu und schaut Rose in die Augen. »Deshalb hatte er
es gerade so eilig. Die Polizei hat ihn wegen Lupano angerufen. Er hat Ihnen
erzählt, was passiert ist, und sich dann verdrückt. So kann er kurz darauf
wiederkommen, und niemand ahnt, dass er gerade schon einmal hier war.«
Sie geht zum Fenster, als könnte
sie ihn draußen auf der Straße sehen. Dann wirft sie einen Blick nach unten.
Roses Wohnung ist nicht weit von Lupanos entfernt.
»Als Person des öffentlichen
Lebens muss er vorsichtig sein«, sagt Rose und lässt sich erschöpft und blass
aufs Sofa sinken. »Wir begehen keinen Ehebruch. Seine Frau ist verstorben.«
»Weshalb dann die
Heimlichtuerei?« Scarpetta setzt sich neben sie. »Verzeihung, aber das begreife
ich nicht.«
»Um mich zu schützen.« Sie holt
tief Luft.
»Wovor?«
»Wenn es sich herumspricht, dass
der Leichenbeschauer etwas mit Ihrer Sekretärin hat, würden manche Leute sicher
Schlüsse daraus ziehen. Die Medien würden bestimmt einen Skandal wittern.«
»Ich verstehe.«
»Nein, tun Sie nicht«, erwidert
Rose.
»Mir geht es doch nur darum,
dass Sie glücklich sind.«
»Bis zu Ihrem Besuch bei ihm
musste ich davon ausgehen, dass Sie ihn nicht ausstehen können. Das war nicht
sehr hilfreich«, fährt Rose fort.
»Dann ist es meine Schuld, weil
ich ihm keine Chance gegeben habe«, antwortet Scarpetta.
»Jedenfalls bin ich dadurch in
eine arge Zwickmühle geraten. Sie haben ihm die schlimmsten Dinge unterstellt,
und umgekehrt war es auch nicht viel besser.« Rose ringt nach Atem. Ihr Zustand
hat sich offenbar verschlechtert. Der Krebs zerfrisst sie vor Scarpettas Augen.
»Ab jetzt wird alles anders«,
sagt sie zu Rose.
»Er war so froh, dass Sie zu ihm
gekommen sind.« Hustend greift Rose nach einem Papiertaschentuch. »Deshalb war
er heute Abend hier. Er wollte mir alles erzählen und hat über nichts anderes
geredet. Er mag Sie und möchte, dass Sie zusammenarbeiten. Nicht
gegeneinander.« Als sie wieder hustet, ist das Taschentuch mit Blut
gesprenkelt.
»Weiß er es?«
»Natürlich. Von Anfang an.«
Schmerz malt sich auf ihr Gesicht. »Wir haben uns in der kleinen Weinhandlung
an der East Bay kennengelernt. Liebe auf den ersten Blick. Wir haben über die
Vorzüge von Burgunder im Vergleich mit Bordeaux geplaudert. Als ob ich eine
Ahnung von Weinen hätte! Aus heiterem Himmel hat er mir vorgeschlagen, wir könnten
doch ein Fläschchen zusammen trinken. Er wusste nicht, wo ich arbeite. Das war
nicht der Grund, warum er mich angesprochen hat. Dass ich bei Ihnen
beschäftigt bin, hat er erst viel später erfahren.«
»Für mich ist das nicht
wichtig.«
»Er liebt mich. Immer wieder
erkläre ich ihm, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat. Aber er antwortet,
wenn man jemanden liebt, ist das eben nicht zu ändern. Wer könne schon sagen,
wie viel Zeit ihm noch vergönnt ist? So sieht Henry das Leben.«
Scarpetta verabschiedet sich von
Rose und geht nach unten, wo Hollings mit dem Detective spricht. Die beiden
Männer stehen neben dem Gebüsch, in dem die Leiche gefunden wurde. Inzwischen
sind Krankenwagen und Feuerwehr verschwunden. Bis auf ein ziviles
Polizeifahrzeug und einen Streifenwagen stehen keine Autos mehr vor dem
Gebäude.
»Ich dachte schon, Sie hätten
sich aus dem Staub gemacht«, sagt der Detective, als Scarpetta näher kommt.
»Ich habe Rose nur in ihre
Wohnung begleitet«, wendet sie sich an Hollings.
»Am besten bringe ich Sie auf
den neuesten Stand der Dinge«, beginnt Hollings. »Die Leiche wurde ans
Gerichtsmedizinische Institut der Universität überführt und wird dort morgen
Vormittag obduziert. Sie sind herzlich eingeladen, bei der Autopsie anwesend
zu sein oder auch daran teilzunehmen, wenn Sie das möchten.«
»Bis jetzt weist alles auf einen
Selbstmord hin«, merkt der Detective an. »Das Einzige, was mich stört, ist,
dass der Mann nackt
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