Totenhauch
etwas hatte ich noch nie erlebt.
Ich nutzte die Gelegenheit und unterzog ihn noch einmal einer gründlichen Begutachtung. Er hatte eine Narbe unter der Unterlippe, die mir bisher noch nicht aufgefallen war. Sie war schmal, aber tief, so als hätte etwas sehr Scharfes die Haut durchbohrt. Ein Messer vielleicht. Die Vorstellung jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Mein Blick wanderte weiter nach unten zu seiner Halsgrube, in der das silberne Medaillon ruhte. Als ich mich vorbeugte, um die Prägung besser sehen zu können, passierte noch etwas Seltsames. Auf einmal stockte mir der Atem. Nicht das flattrige Gefühl, das man vor Aufregung oder vor Angst bekommt, sondern eine lähmende Empfindung, so als würde einem jemand die Luft abdrehen.
Ich taumelte zurück und presste die Hand auf die Brust. Puuuh .
Devlin murmelte irgendetwas im Schlaf, und ich wich hastig noch weiter weg von ihm, stieß gegen den Schreibtisch und ließ mich mit weichen Knien auf meinen Stuhl sinken. Dann sah ich wieder zu ihm hinüber und strich mir nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. Was war da gerade passiert?
Ich versuchte, nicht überzureagieren, aber der Druck aufmeiner Brust war äußerst unangenehm. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Als ich nach einer Weile endlich wieder ruhiger atmen konnte, sagte ich mir, dass das Ganze ein eigenartiger Auswuchs meiner überreizten Nerven war. Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten als auf John Devlin, und schaltete meinen Laptop ein, um die Kommentare zu meinem Blog-Eintrag von letzter Woche durchzugehen. »Friedhofsdetektiv: Den Toten nachschnüffeln«. Ein Artikel voller Vorahnungen, wie sich herausgestellt hatte. Was mich im Hinblick auf mein nächstes Thema ein wenig beunruhigte – »Sex auf dem Totenacker: Friedhofstabus«.
Wieder warf ich einen kurzen Blick auf Devlin. Er schlief immer noch tief und fest.
Eine ganze Stunde verging, bis er sich endlich regte. Er schlug die Augen auf und blickte sich verwirrt um. Als er sah, dass ich ihn anstarrte, setzte er sich hastig auf, schwang die Beine über die Seite der Chaiselongue und rieb sich mit den Händen über das Gesicht.
»Wie lange war ich weg?«
»So ungefähr eine Stunde.«
»Verdammt.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und fuhr sich dann mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. »Tut mir leid. So was mache ich sonst nie. Keine Ahnung, was los ist.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist ein gemütliches Plätzchen, weil hier die Sonne so schön hereinscheint. Ich werd auch immer ein bisschen dösig, wenn ich dort sitze.«
»Das war nicht nur dösig. Ich war wie tot. So tief habe ich nicht mehr geschlafen, seit …« Er stockte, legte die Stirn in Falten, dann schaute er weg.
Ich fragte mich, was er hatte sagen wollen. »Sie sind spät ins Bett gekommen. Sie waren bestimmt erschöpft.«
»Das war es nicht. Es liegt an diesem Raum.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn wieder klar bekommen. »Es ist friedlich hier.« Unsere Blicke trafen sich, und ich spürte, wie meine Nervenenden sich elektrisch aufluden. »So ausgeruht habe ich mich seit Jahren nicht gefühlt«, sagte er.
Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber er sah irgendwie anders aus, wie er jetzt im Sonnenlicht saß. Die dunklen Schatten unter seinen Augen waren verblasst, und er wirkte erholt und ausgeglichen. Verjüngt, würde ich fast sagen.
Dagegen hatte ich immer noch weiche Knie, und während der Druck in meiner Brust nachgelassen hatte, empfand ich jetzt eine unangenehme Leere in der Magengrube und eine allumfassende Teilnahmslosigkeit, die mir ganz fremd war. Als wir so dasaßen und einander quer durch den Raum anblickten, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Devlin mir im Schlaf irgendwie meine Energie ausgesaugt hatte.
Das war natürlich unmöglich. Er war ja kein Geist. Bis jetzt hatte ich noch nie jemanden gesehen, der so lebendig wirkte wie er.
»Sind Sie okay?«, fragte er mich. »Sie sind ein bisschen blass.«
Ich schluckte. »Wirklich?«
»Vielleicht ist es bloß das Licht.« Er nahm die Bücher und stand auf. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir die ein paar Tage ausleihe? Ich werde sie pfleglich behandeln.«
»Nein, ich habe nichts dagegen.« Ich erhob mich ebenfalls mit wackeligen Beinen. »Haben Sie eine Ahnung, wann ich wieder auf den Friedhof kann?«
»Morgen Nachmittag werden wir ihn noch einmal Stück für Stück absuchen. Ich hätte Sie gern dabei, wenn sich das
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