Totenmesse
Lidström«, sagte Chavez.
»Andreas Becker ist auf der Flucht«, sagte Kerstin Holm. »Seit Oktober. Sein Alter Ego Johan Lidström ist geplatzt, davor flieht er jetzt. Weil jemand ihn gefunden hat, jemand aus der Vergangenheit, der ihn lange gejagt hat und weiÃ, dass er ein kostbares Geheimnis hütet. Die Tour mit dem Apfel kennt man vom Kalten Krieg. Sie wissen, dass in der Familie nur er selbst Ãpfel isst, sie vergiften einen Apfel mit Spritzmittel, damit es plausibel erscheint. Nur dass Anna Lidström ausgerechnet an diesem Tag beschlieÃt, den kleinen Andreas (der Sohn hieà tatsächlich Andreas) ein Stück Apfel probieren zu lassen. Beckers wohlgeplante kleine Familie wird ausgelöscht. Er erkennt die Zeichen und löst sich in Luft auf. Er verschafft sich eine anonyme kleine Wohnung in einem groÃen Haus in Tanto. Als die schwerste Trauerarbeit überstanden ist, beschlieÃt er zu handeln. Was tut er? Ein halbes Jahr vorher hatte er dienstlich zufällig mit dem Sicherheitssystem einer Bank zu tun, ausgerechnet in dem Viertel, wo früher die Stasi untergebracht war. Die Dinge fügen sich zusammen. Er hat tief in der Wand des Büros ein Geheimnis begraben, er weiÃ, dass seine alten Kumpane dort drinnen inzwischen eine gut bewachte Sicherheitsfirma betreiben. AuÃerdem weià er, wie man an die Sicherheitsnetzwerkverkabelung in der Bank kommt. Ein GeiseldramaeinschlieÃlich Evakuierung, und er schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe. Er erleichtert die Bank um zwanzig Millionen, und er kriegt das zweite wichtige Papier in die Hand â das erste hat er bereits in einem Schreibtisch der A-Gruppe verstaut, da er uns offenbar als eine Art Rückversicherung benutzen will, einen Plan B, einen Ausweg aus dem Spionagesumpf. Er geht zu einem ziemlich heruntergekommenen KGB-Genossen und einem mindestens ebenso heruntergekommenen Muskelmann und lässt sie den Raub ausführen. Dass sie mit gröÃter Sicherheit gefasst werden, ist ein Teil des Plans. Sie werden mit Geld schadlos gehalten. Aber statt dass die Polizei sie erwischt, werden sie von der amerikanischen Organisation geschnappt, die sehr wahrscheinlich auch seine Familie ermordet hat. Er muss sie befreien, das ist Ehrensache. Indem er einen alten Agentenfreund oder -feind erpresst, findet er heraus, wo die amerikanische Organisation ihr safe house hat, und macht sich auf den Weg nach Färingsö. Dort verliert sich die Spur in einer Villa. Er kann tot sein, er kann auch am Leben sein.«
»Danke für die Zusammenfassung«, sagte Jorge Chavez.
»Bitte«, sagte Kerstin Holm. »Und wenn er lebt, kann er in diesem Augenblick durchaus in der Tantogatan 41 sitzen. Und wir haben ein beschäftigungsloses Team von hohen Polizeioberen, die sich weit auÃerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit tummeln. Sie sind mit der nationalen Einsatztruppe vor Ort. Was sie brauchen, ist nur eine bestimmte Wohnung.«
»Er liebt sprachliche Ãbereinstimmungen«, sagte Jon Anderson. »Alvin und Allvin. Strömberg und Lidström.«
»Obwohl es auch einen Rolf Strand gibt«, sagte Kerstin Holm. »Ohne sprachliche Ãbereinstimmungen.«
»Er nennt seinen Sohn Andreas«, sagte Anderson. »Er will die Vergangenheit nicht ganz auslöschen.«
»Er will sie nur verändern«, sagte Chavez.
»Wenn man sich verstecken will, ist es doch nicht besondersklug, sich Andreas zu nennen?«, sagte Kerstin Holm. »Es gibt einen Andreas. Andreas Lindh-Ramberg.«
»Ein Doppelname wäre nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Anderson. »Er wollte ja einigermaÃen anonym sein.«
»Ich glaube, der ist es«, sagte Chavez und zeigte lässig auf das Flipchart.
»Wohnungsieben?«sagte Holm. »Lars Bergman?Warum?« Jorge Chavez zuckte die Schultern und sagte: »Er mag Bergman-Filme.«
Musik schallte über Tantolunden. Als Paul Hjelm durch ein Fenster im Treppenhaus des hohen 60er-Jahre-Hauses auf die GroÃstadtoase blickte, hatte er den Eindruck, dass die Töne über dem schmutzigen Schneematsch von ganz Ã
rstaviken zitterten.
Er sah hinter sich ins Treppenhaus und lieà die Einsatzbeamten mit ihren schwarzen Anzügen und Visieren vorbei. Dann nickte er Niklas Grundström zu, der auf der anderen Seite der kleinen Tür stand.
Zum ersten Mal glaubte Paul Hjelm zu ahnen, woher die Töne der Totenmesse kamen. Sie kamen aus
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