Totenruhe
gehandelt. Kleine Dealer gingen der Polizei ins Netz und mit der Apothekerwaage musste gemessen werden, ob die beschlagnahmte Menge noch als Eigenbedarf gelten durfte oder bereits Handelsgut war. Bei großen Geschäften mischten andere die Karten, man sprach allgemein von der Mafia, ob russische, chinesische oder albanische wusste keiner so genau. Und Stoll wusste gar nichts. Das ärgerte ihn über alle Maßen. Wo in Linden könnten größere Geschäfte abgewickelt werden? Da war der Lindener Hafen am Mittellandkanal, ein Hafen für Binnenschiffe, die zumeist Schüttgut aus dem Ruhrgebiet oder dem Osten brachten. Immer wieder wurden Zigaretten und gefälschte Nobelmarken von Uhren und Klamotten gefunden. Manche Schiffe kamen auch aus Holland, aber die wurden schon weit vor Hannover auf illegale Ware durchsucht. Drogen in größeren Mengen wären da nicht durchgekommen. Stoll dachte über andere Wege nach. Die Autobahn Ruhrgebiet – Berlin ging über Hannover, eine wichtige Eisenbahnverbindung ebenfalls.
Und Luftverkehr? Da war der Flughafen in Langenhagen, vor den Toren Hannovers. Das waren alles etablierte Verkehrsadern, die vielfach kontrolliert wurden. Natürlich kam da vieles durch, aber immer wieder gelang dem Zoll ein Schnäppchen. Die kriminellen Hintermänner verfuhren nach dem Prinzip »Schwund ist immer« und machten weiter. Kleintransporteure bekamen Geld- oder Haftstrafen, was offensichtlich nicht sehr abschreckte.
Was würde ich tun, wenn ich Drogen-Mafioso wäre, fragte sich Stoll. Kein Mensch kann sich in einen Mafioso hineindenken, sonst gäbe es keine freilaufenden Mafioso mehr, antwortete er sich selbst. Doch der Gedanke blieb haften, eröffnete eigene Lösungsstränge. Man könnte legale Handelswege nutzen und Drogen als Beipack versenden. Das war nicht neu. Welche legalen Wege führen nach Linden? Stoll ging die Betriebe durch, die nicht mehr sehr zahlreich waren. Die alte Arbeiterstadt Linden war Vergangenheit, Industriearbeiter waren längst seltener als Hartz IV-Empfänger. Noch seltener waren Betriebe mit nennenswerten internationalen Verbindungen. Cordes fiel ihm ein, der baute Straßenbaumaschinen im Auftrage des Bundes, Geräte für die Pioniere. Die gingen ins Ausland, wo immer die Bundeswehr stationiert war. Kosovo und Umgebung, Ostafrika, Asien und da direkt im Kriegseinsatz in Afghanistan. In Kriegsgebieten war der Materialverschleiß am größten. Wie kamen die Geräte von Cordes nach Afghanistan? Das besorgte die Bundeswehr selbst. Von ihrem Luftstützpunkt Evershorst flogen die mit Transportmaschinen nach Usbekistan. Und von dort ging es dann direkt an die Front. Wurde kontrolliert, war in Evershorst der Zoll dabei, wenn eine Transportmaschine beladen wurde? Lächerlich. Natürlich nicht. Die Bundeswehr muss keinen Zoll bezahlen. Und sie darf exportieren, was niemand sonst ohne besondere Genehmigung handeln darf: Waffen jeder Art, Gift und chemische Kampfstoffe. Außerdem ging es um Ausfuhr. Stoll durchdachte den Gegenweg. Was brachten die Transport-Maschinen aus Afghanistan zurück? Zuweilen Tote, öfter Verwundete. Material? Sicher nicht. Leere Spezial-Container kamen zurück, und die gingen dann wieder an Cordes. Würde da der Zoll einen Blick hineinwerfen? Nie und nimmer. Zoll und Bundeswehr – das ging gar nicht zusammen. Afghanistan – Stoll wusste, dass dort weltweit mehr als 90 Prozent des Opiums produziert wurden. Trotz internationaler Streitkräfte und Taliban. Oder gerade deswegen? Finanzierten die Taliban ihren aufwändigen Terror nicht über den Stoff? Dazu kamen zahllose Provinz-Warlords. Weizen für die Bevölkerung musste importiert werden, weil die Bauern mit Opiumanbau das Zehnfache gegenüber Weizenanbau verdienten. Eine perverse Blüte der Marktwirtschaft. Was taten die ISAF-Truppen gegen Opium? Entweder taten sie nichts oder sie waren in dieser Frage genauso erfolglos wie in ihrem Krieg gegen den Taliban-Terror.
Stoll kam vom Thema nicht los. Er hatte eine Eingebung und ließ sich mit der Standortkommandantur des Stützpunktes Evershorst der Bundesluftwaffe verbinden. Nachdem er sein Problem benannt hatte, war der diensthabende Offizier Major Funke die Zuvorkommenheit selbst. Ja, am nächsten Tag um 9.30 Uhr MEZ – Sommerzeit komme eine Transportmaschine aus Usbekistan. Gern würde man die Polizei begrüßen.
Am nächsten Morgen machten sich Stoll und Böker auf den Weg. Der Militärflugplatz war ganz in der Nähe des Zivilflughafens Langenhagen. »Im
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