Totenverse (German Edition)
als er ihre Schulter packte und nach hinten riss. Sie schrie auf, aber er hielt ihr sofort den Mund zu und schlang den anderen Arm um ihre Taille. Er zog sie rückwärts, obwohl sie sich wand und kratzte, und stieß sie in das Auto.
36
Nachdem Nayir und Osama die Speicherkarte bei Samir abgeholt und ins Präsidium gebracht hatten, fuhren sie zu Mabus’ Wohnung. Als sie dort ankamen, hatte ein leichter Regen eingesetzt. Die Haustür war unverschlossen, und Osama zog seine Pistole, ehe sie hineingingen. »Polizei!«, rief er. »Ist jemand zu Hause?«
Sie suchten rasch alle Räume ab. Es war niemand da, aber die Hintertür stand weit offen. Im Haus selbst fanden sie nichts Interessantes. Der Computer war offenbar kaputt, und es sah so aus, als wäre der Schreibtisch schon lange nicht mehr benutzt worden, denn er lag unter einer dicken Staubschicht. Osama forderte im Präsidium ein Team der Spurensicherung an und winkte Nayir dann wieder nach draußen.
Während sie auf die Kriminaltechniker warteten, klingelte Osamas Handy. Er meldete sich und lauschte ein paar Minuten lang aufmerksam, ehe er wieder auflegte.
»Miriams Handytelefonate von heute Morgen liegen endlich vor«, berichtete er. »Ein Mann namens Jacob Marx hat sie angerufen.«
»Das ist wahrscheinlich der Jacob, den sie erwähnt hat«, sagte Nayir.
Sie beschlossen, nicht länger auf die Spurensicherung zu warten, sondern zum Compound Arabian Gates zu fahren, der ganz in der Nähe lag. Nayir registrierte verwundert, dass es dunkel wurde. Der Regen hatte aufgehört, und der Himmel war stahlgrau.
»Was hat Miriam über diesen Jacob Marx erzählt?«, fragte Osama.
»Sie hat gesagt, er würde notorisch fremdgehen, und wenn irgendwer mit Leila geschlafen hat, dann er und nicht Eric. Anscheinend geht er ständig mit arabischen Frauen ins Bett.«
Osama schien diese Information völlig kaltzulassen. »Aber laut dem Misyar waren Eric und Leila verheiratet«, stellte er fest.
Nayir nickte.
»Und dieser Jacob war mit Eric und Mabus zusammen in der Wüste?«, fragte Osama.
»Ja«, sagte Nayir. »Miriam hat bei Jacob zu Hause ein Foto von allen drei draußen in der Wüste gesehen. Es war erst kürzlich aufgenommen worden.«
Osama versank in nachdenkliches Schweigen. Kurz bevor sie die Einfahrt zum Compound erreichten, sagte er: »Der schnellste Weg, Informationen von jemandem zu bekommen, ist meistens auch der unangenehmste.«
Nayir sah vor seinem geistigen Auge einen Stuhl, an den jemand gefesselt war, dem grelles Lampenlicht ins Gesicht schien, und einen kleinen gebeugten Mann, der dem Opfer bereits das Skalpell ans Ohr hielt. Er hatte über brutale Polizeimethoden schon allerhand gehört, Geschichten, wie sie immer mal wieder die Runde machten und mit jeder Runde schlimmer zu werden schienen. Er wusste nicht, ob überhaupt etwas davon stimmte, aber allein schon die Menge der Geschichten und die erstaunliche Anzahl von Freunden und Bekannten, die irgendetwas Abscheuliches über den Zusammenstoß eines ihrer Angehörigen mit der Polizei zu berichten wussten, hatten ihn davon überzeugt, dass die Polizei nicht immer im besten Interesse der Menschen arbeitete. Sämtliche Bewunderung für Osama, die nach den morgendlichen Ereignissen so sprunghaft in ihm gewachsen war, drohte jetzt ebenso schnell wieder in sich zusammenzufallen.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Nayir zurückhaltend.
Osama sah zu ihm rüber. »Nur so als Feststellung«, sagte er. »Jedenfalls werde ich bei diesem Jacob spontan improvisieren. Ich will damit sagen, dass Sie bitte einfach mitziehen, egal was ich tue, okay?«
Nayir antwortete nicht. Er würde nämlich nicht »mitziehen«, falls Osama anfing, jemandem die Zehen abzuschneiden.
Als Osama Nayirs Miene sah, prustete er los.
Sie passierten die Kontrolle am Eingang ohne große Probleme. Der Wachmann beschrieb ihnen den Weg zum Haus der Marxes, aber er rief offensichtlich auch an, um sie vorzuwarnen, denn kaum klopften sie an die Tür, wurde sie auch schon von Jacobs Frau geöffnet, als hätte sie direkt dahintergestanden.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Osama, »aber ich bin Inspektor –«
»Ich weiß«, sagte sie. »Kommen Sie herein.« Ihr Gesicht war zwar unverschleiert, aber sie trug ein schwarzes Kopftuch und eine lange schwarze Abaya. Nayir vermutete, dass sie die Sachen hastig übergeworfen hatte. Das Kopftuch rutschte ständig nach hinten, und sie musste es schon zweimal zurechtrücken, ehe sie
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