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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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erneuten Tränen verrieten ihm deutlich, wie leid es ihr tat.
    Osama lehnte sich zurück. Sein einziger Gedanke war, dass sein Sohn niemals Geschwister haben würde. Er versuchte, sich selbst ohne seine Brüder und Schwestern zu sehen, und es war ein trauriges Bild. Es leuchtete schlagartig vor ihm auf: wie einsam sein Leben gewesen wäre. Er sah seinen Sohn allein. Und dann wurde ihm klar, dass Muhannad auch keine Eltern um sich haben würde, weil sie beide berufstätig waren. Sie würden ihr Leben mit ihrer Arbeit verbringen. Vielleicht würden sie sich sogar scheiden lassen. Scheidung. Das Wort landete wie ein Stein auf dem Boden. Er würde erneut heiraten müssen, falls er noch mehr Kinder haben wollte. Er hielt nichts davon, sich eine zweite Frau zu nehmen. Und Nuha hätte das ohnehin niemals akzeptiert. Er konnte sich nicht mal vorstellen, eine zweite Frau zu finden.
    »Osama?« Sie blickte ihn besorgt an.
    »Ich brauche Zeit«, sagte er. Er widerstand dem Drang, sie einfach allein zu lassen. Eiskalt aufzustehen und zu gehen. Diesem Impuls würde er nicht mehr nachgeben; er hatte schon genug Schaden angerichtet. Stattdessen blieb er einfach nur sitzen, sprachlos.
    »Es tut mir leid«, schluchzte sie.
    Er nickte. Er ließ ein paar Minuten verstreichen, ehe er ihre Hand nahm und drückte. Dann stand er auf, beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Der vertraute Duft ihres Haars zwang ihn fast in die Knie. Er verdrängte ihn. Er sah sie noch ein letztes Mal an, ließ ihre Hand los, ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür.
     

49
     
    Miriams Bruder Justin war faszinierend – groß, blond und kräftig und somit fast in jeder Hinsicht das Gegenteil von Miriam. Das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten, waren diese großen blauen amerikanischen Augen. Gut, dass sie Amerikaner sind , dachte Nayir unwillkürlich, denn die alte Regel – der zufolge ein Mann bei der Wahl einer Ehefrau nur ihren Bruder anschauen müsse, um zu wissen, wie seine Braut aussehen würde – wäre in ihrem Fall so hoffnungslos falsch, dass ein zukünftiger Ehemann sich glatt hintergangen fühlen konnte.
    Diese Augen ruhten öfter auf Nayir, als ihm lieb war. Er und Miriam saßen nebeneinander am Flughafen. Justin hatte sich auf Miriams Bitte hin diskret ein paar Meter entfernt, doch seine Augen blickten immer wieder forschend in Nayirs Gesicht. Ein paarmal ertappte Nayir ihn dabei, wie er ihn musterte, als wäre Nayir derjenige, der Miriam betrogen hatte.
    »Ich begreife das alles noch immer nicht so richtig«, flüsterte Miriam.
    Wie so oft wusste Nayir nicht, was er antworten sollte. Er musste an all das denken, was die Polizei ihr nicht erzählt hatte. An die Videoaufnahmen von Eric und Leila in der Wüste, in der Wohnung im amerikanischen Compound, Alkohol trinkend. An Katyas jüngste Entdeckung, dass die Haare in Leilas Neqab von Eric stammten. Er nahm sich vor, Osama für sein Taktgefühl zu danken.
    »Hat die Polizei Ihnen gesagt, dass Leila definitiv von einem Mann namens Fuad getötet wurde?«, fragte Nayir.
    »Ja«, sagte Miriam. »Aber sie haben mir nicht gesagt, wer der Mann ist.«
    »Er hat im Geschäft ihres Bruders gearbeitet und ihn bestohlen. Sie hatte ihn mit einer Überwachungskamera dabei gefilmt. Ich denke, sie wollte ihn erpressen.«
     
    Miriam nickte und blickte auf ihre Hände. Eine Träne glitt ihr über die Wange.
    »Miriam.« Ihr Bruder stand jetzt dicht neben ihnen. »Wir müssen zu unserem Gate.«
    Miriam wandte sich Nayir zu. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Wange und lachte. »Doch ich weiß, ich wäre gestorben.«
    »Sie leben.«
    »Dank Ihnen.«
    »Mein Beileid wegen Eric«, sagte er. Sie nickte, und frische Tränen rannen ihr über die Wangen. Nayir hätte gern ihre Hand genommen, doch ihr Bruder stand drohend neben ihnen.
    Untröstlich und hilflos sah Miriam zu ihrem Bruder hoch und nahm seine Hand. Auch Nayir stand auf, von dem jähen Aufbruch überwältigt.
    »Zumindest ein Gutes ist dabei herausgekommen«, sagte sie.
    »Und das wäre?«
    »Dass ich Ihnen begegnet bin.« Sie ließ die Hand ihres Bruders los, breitete die Arme aus und zog Nayir in eine feste, warme Umarmung, die er verblüfft erwiderte.
    Dann sah er sie weggehen und hatte plötzlich das Gefühl, etwas zu verlieren, ein Gefühl, das umso schmerzlicher war, weil es von Dauer sein würde, denn er würde sie nie wiedersehen. Es war, und es war nicht . Auch als er

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