Totenwache - Thriller
ihm von Anfang an stets um einen Schritt voraus gewesen - nein, nicht um einen Schritt: um Lichtjahre. Und jetzt war er hier, um Santangelos DNS abzuliefern, sein einziges, sein letztes Beweismittel. Ob auch das wieder nichts bringen würde? Was
hatte Zohar noch mal gesagt? Ob Santangelo tatsächlich plausibel begründen konnte, warum er an jenem Abend in Leos Wohnung gewesen war? Konnte der Mann sich wirklich darauf hinausreden, dass er Leo vor dessen Ermordung lediglich kurz besucht hatte? War das Blut in den Mücken also gar kein taugliches Beweismittel? Aber noch viel schlimmer: Bestand wirklich die Möglichkeit, Nick selbst den Mord an Leo anzulasten? Er versuchte, wieder etwas Klarheit in seine Gedanken zu bringen, gab sich redlich Mühe, sich auf die wesentlichen Punkte zu konzentrieren. Doch er war so müde, litt solche Seelenpein wie seit Jahren nicht mehr. Aber ihm blieb gar nichts anderes übrig: Er konnte nur weitermachen und hoffen, dass sich am Ende alles irgendwie fügen würde.
Irgendwann hörte er am anderen Ende des Gangs Schritte. Als er sich umdrehte, sah er Sanjay Patil, der gerade um die Ecke bog. »Nick«, sagte er schlicht.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, schrie Nick. »Ich hab dich überall gesucht - ich warte seit Stunden auf dich.«
»Wollen mal sehen.« Sanjay drückte dem verdutzten Nick seinen Diplomatenkoffer in die Hände. Dann öffnete er die Messingverschlüsse, hob den Deckel ein wenig an und spähte in den Koffer. »Ah, da ist es ja - hab ich mir doch gleich gedacht: mein Privatleben , ich habe nämlich zufällig noch ein Privatleben.« Dann klappte er den Deckel wieder zu und nahm den Koffer zurück. »Vielleicht solltest du dir auch mal so was zulegen«, sagte er. »Kann ich nur wärmstens empfehlen.« Er trat vor die Labortür und fing an, nach seinen Schlüsseln zu suchen.
»Sanjay, es geht hier um Leben und Tod!« »Das hast du mir auch von meiner Sekretärin mitteilen lassen und auf meiner Mailbox verkündet. Und mein Forschungsassistent hat mir das auch schon ausgerichtet. Mal
ganz abgesehen von den E-Mails und den vier Anrufen auf meinem Anrufbeantworter.«
»Was hast du den ganzen Tag gemacht?«
»Schon mal was von einem freien Tag gehört? Das ist eine brandneue Errungenschaft, die sich hier in der westlichen Welt in den vergangenen dreitausend Jahren durchgesetzt hat.«
»Ich dachte, dass du heute wenigstens mal kurz hier vorbeischaust.«
»Verstehe. Du begreifst einfach nicht, was mit dem Konzept des freien Tages gemeint ist. Diese Idee besagt, dass man mal einen ganzen Tag nicht im Büro erscheint, und nicht arbeitet. Unvorstellbar, was?« Er stieß die Tür auf und sah Nick an. »Weißt du eigentlich, dass du meinen Anrufbeantworter mit deinen Nachrichten komplett vollgequatscht hast? Meine Frau wollte mir eine Nachricht hinterlassen, mich daran erinnern, dass ich heute unsere Tochter vom Cellounterricht abholen soll. Konnte sie aber nicht, weil die Kiste mit deinen Nachrichten verstopft war.«
»Dann hat deine Tochter also eine Stunde länger Cello geübt als geplant?«
»Nein, sogar zwei .«
»So schafft man es in die Carnegie Hall.«
Sanjay sah ihn finster an. »Wie heißt meine Tochter eigentlich noch mal?«
»Was?«
»Meine Tochter - wie heißt Sie? Oder wie heißt meine Frau ?«
»Mrs. Patil?«
»Siehst du? Da haben wir es wieder, Nick Polchak. Für dich zählt nur die Arbeit - und immer geht es gleich um Leben und Tod. Du wirst das Privatleben anderer Leute so lange nicht respektieren, wie du selbst keines hast.«
»Sanjay, ich versuche doch gerade, mir ein Privatleben aufzubauen - aber wenn du mir nicht hilfst, zerrinnt mir das alles wieder zwischen den Fingern.«
Sanjay musterte Nick. »Wirklich? Um Leben und Tod?«
»Ja, ganz im Ernst.«
Sanjay trat in sein Labor und schaltete das Licht ein. Die Neonröhren flackerten Reihe für Reihe auf und tauchten den Raum in blauweißes Licht. Nick schnappte sich die Wasserflasche, die er neben dem Stuhl abgestellt hatte, und ging hinterher.
»Übrigens habe ich die Ergebnisse«, sagte Sanjay. »Ich habe aus deinen Mücken vier unterschiedliche DNS-Sequenzen isoliert.«
»Großartig. Und jetzt musst du bitte noch ganz schnell das hier sequenzieren.« Er reichte ihm die Wasserflasche.
»Was ist das?«
»Oben an der Flasche müssten noch Speichelreste haften. Kannst du die Flasche bitte sofort in deine Zentrifuge stecken und den Speichel anschließend in deine Sequenziermaschine einspeisen?
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