Totenwache - Thriller
Nick ernst an.
»Nun sind sämtliche Funktionen, denen wir unsere individuelle Identität verdanken - die Persönlichkeit, das Bewusstsein, die Erinnerung und das Denkvermögen - an das Großhirn gekoppelt«, fuhr er fort. »Daher kann man mit einigem Recht fragen: Ist ein Mensch, dessen Bewusstsein und Persönlichkeit endgültig erloschen sind, überhaupt noch am Leben? Und wenn nicht - wieso sollten wir dann mit der Organentnahme warten, bis auch die niederen Hirnfunktionen erloschen sind? Zohar hat sich dafür eingesetzt, den Großhirntod als das entscheidende Todeskriterium zu werten.«
»Und dann hat er Ärger bekommen?«
»Nein, kann man nicht sagen - viele Fachleute teilen diese Auffassung sogar. Doch dann hat Zohar noch einen weiteren Vorstoß gemacht und sich damit selbst isoliert. Er hat sich nämlich nachdrücklich für die obligatorische Organentnahme ausgesprochen, das Recht des Staates, benötigte Organe nach dem Tod eines Menschen auch ohne dessen vorherige Zustimmung zu entnehmen.«
»Ganz schön heftig.«
»Ja, das finde ich auch. Allerdings gehen die Befürworter dieser Regelung von anderen Prämissen aus. Sie sagen nämlich: Wenn Sie Ihren Müll an die Straße stellen, sind damit Ihre Eigentumsrechte an dem Inhalt des Müllsacks erloschen. Jeder kann darin nach Lust und Laune herumwühlen. Zugleich mit dem Eigentum büßen Sie auch sämtliche Rechte an Ihrem Müll ein. Die Verfechter der obligatorischen Organentnahme machen das gleiche Kriterium auch für den menschlichen Organismus geltend: Wenn Sie sterben, bleibt von Ihnen aus Sicht dieser Leute nichts als Müll übrig, das heißt, Sie verlieren sämtliche Rechte an Ihrem eigenen Körper«, erklärte er und sah aus dem Fenster.
»Natürlich ist leicht nachzuvollziehen, dass viele Transplantationsmediziner diese Auffassung befürworten«, erklärte er dann. »Immerhin stehen diese Leute ständig vor dem Problem, dass sie die Angehörigen eines Verstorbenen vor der Entnahme eines Organs zuerst um Erlaubnis bitten müssen - und dieser Wunsch wird ihnen in über fünfzig Prozent der Fälle abgeschlagen. Deshalb würde es denen natürlich sehr entgegenkommen, wenn sie gar nicht mehr zu fragen bräuchten.«
Paulos sah Nick an, der ihm aufmerksam zuhörte, und sprach dann weiter: »Zohar hat sich diese Position rückhaltlos zu eigen gemacht, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Denn in der westlichen Welt gelten die Rechte des Individuums nun mal bis heute als sakrosankt. In unserer Kultur herrscht der Glaube vor, dass wir das Recht haben, über unseren eigenen Körper zu verfügen, und dass dieses Recht auch nach dem Tod nicht erlischt. Wenn in unserer Kultur jemand daherkommt und sich für die obligatorische Organentnahme ausspricht, fühlen sich immer noch viele Menschen an Horrorgestalten wie Dr. Mengele und die medizinischen Experimente der Nazis erinnert.
Deshalb hat Zohar in Fachkreisen zwar weithin Zustimmung gefunden, als er ein neues Todeskriterium vorgeschlagen hat, doch als er dann auch noch die obligatorische Organentnahme durchdrücken wollte - und zwar nicht nur als ethische Lehrmeinung, sondern in seiner Funktion als Leiter der hiesigen Koordinierungsstelle -, galt er plötzlich in der gesamten Zunft als rücksichtsloser Utilitarist. Und je mehr Druck er aufgebaut hat, desto mehr Widerstand hat er erzeugt. Schließlich hat er alles hingeworfen und ist einfach abgetaucht.«
»Abgetaucht?«
»Ja, er hat sich aus sämtlichen Gremien zurückgezogen und auch nichts mehr publiziert. Schade eigentlich. Ich habe nämlich mehrere seiner Sachen gelesen - der Mann hat durchaus etwas zu sagen. Seither hatte ich Zohar völlig aus den Augen verloren, bis ich ihm im Ethikrat von PharmaGen plötzlich wieder begegnet bin.«
»Hat Sie das überrascht?«
Paulos zuckte mit den Schultern. »Irgendwann erholen sich die meisten von so einem Zusammenbruch. Eigentlich habe ich mich sogar gefreut, ihn wiederzusehen - wenigstens zunächst.«
»Der Christ und der Utilitarist«, sagte Nick. »Wie sind Sie miteinander klargekommen?«
»Na ja, eine harmonische Ehe ist etwas anderes, würde ich mal sagen. Zohar ist ein großer Fan von PharmaGen - und wieso auch nicht? Schließlich verheißt PharmaGen genau das, was für einen Utilitaristen das höchste Gut ist: den größtmöglichen Vorteil für die größtmögliche Zahl von Menschen. Wenn ich Zohar daran erinnere, dass der Mensch - und zwar jeder Mensch - nach Gottes Ebenbild geschaffen ist und
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