Totes Zebra zugelaufen
Frau vor, nicht unbedingt imposant, aber doch der Typ der grandedame. Als sie erschien, erfuhr er wieder einmal, wie falsch es war, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Sie war sehr klein, kaum einssechzig groß, und so zierlich, daß sie nicht mehr als neunzig Pfund wiegen konnte. Er hatte damit gerechnet, daß sie etwa fünfzig Jahre alt sei, und das war sie auch, obwohl sie sichtlich Anstrengung machte, den Zahn der Zeit aufzuhalten. Ihr Mund und das Kinn mit dem Grübchen erinnerten irgendwie an ein Kätzchen, und die leicht schmollenden Lippen sollten wohl kindlich verführerisch wirken. In ihrer Jugend mußte sie eines jener zerbrechlichen, »süßen« Dinger gewesen sein, anlehnungsbedürftig und warme Leidenschaft versprechend. Ihr Haar war hell und umrahmte kurzgeschnitten ihre zarten Gesichtszüge.
Als sie Tibbs erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen; das Lächeln auf ihren Lippen erlosch. »Sie wollten mich sprechen?« fragte sie und betonte das erste Wort.
»Guten Morgen, Mrs. Pratt. Ja, ich hätte mich gern einen Moment mit Ihnen unterhalten. Dienstlich.«
Joyce Pratt runzelte die Stirn und blickte nochmals auf die Visitenkarte. »Ich war seit fast zwei Monaten nicht mehr in Pasadena«, erklärte sie.
Das Mädchen, das hinter ihr stand, beobachtete Tibbs gespannt.
»Diese Sache geht Sie nur indirekt an, Mrs. Pratt«, erklärte er. »Doch ich brauche verschiedene Auskünfte von Ihnen.«
Das Mädchen trat zurück, um die Dame des Hauses mit ihrem Besucher vorbeizulassen.
Aber Mrs. Pratt hatte es nicht eilig. »Möchten Sie näher treten?« fragte sie in einem Ton, aus dem klar hervorging, daß sie eine verneinende Antwort erwartete.
»Danke«, erwiderte Tibbs und trat ein.
Er stand in einem Wohnzimmer, das mehr einem Boudoir glich. Die Möbel, die vielen bunten Kissen und die Vorhänge an den breiten Fenstern strahlten eine beinahe aufdringliche Weiblichkeit aus. Die sorgsam gepflegte Atmosphäre verriet ihm viel über die Eigentümerin des Hauses und auch weshalb der Mann, der jetzt im Leichenschauhaus von San Bernardino lag, sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Ihre Zierlichkeit und ihr scheinbares Anlehnungsbedürfnis waren ihr Kapital.
Er drehte sich um und wartete, bis die Dame des Hauses ihm widerstrebend gefolgt war. Als sie sich schließlich umständlich in einen Sessel sinken ließ, nahm er auf einem überraschend weichen Sofa Platz, das nahe genug stand, um leise sprechen zu können, und dennoch weit genug, um keine Vertraulichkeit auf- kommen zu lassen.
»Mrs. Pratt«, begann er, »wenn ich recht unterrichtet bin, sind Sie mit Dr. Albert Roussel befreundet und Teilhaberin der Gesellschaft, die seine Patente auswertet.«
Ihre Stimme war hart und kalt, als sie antwortete. »Ich sehe nicht ein, was es über Dr. Roussel zu besprechen gibt. Wenn Sie etwas von ihm wollen, wenden Sie sich am besten an ihn persönlich. Ist das alles?«
Tibbs legte die Finger gegeneinander und schwieg, um ihr klarzumachen, daß er nicht so leicht abzuschütteln war. »Mrs. Pratt«, fing er dann von neuem an, »es ist mir höchst unangenehm, Ihnen eine traurige Nachricht bringen zu müssen, doch ich kann mich nicht an Dr. Roussel persönlich wenden.«
Sie sah ihn scharf an. »Was soll das heißen?« Kurz und hart kamen die Worte, als wäre sie empört über seine Behauptung.
»Mrs. Pratt«, sagte Tibbs sehr langsam, »ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ein Mann, der große Ähnlichkeit mit Dr. Roussel besitzt, vor wenigen Tagen tot auf gefunden wurde. Obwohl der Tote noch nicht offiziell identifiziert wurde, steht zu befürchten, daß es sich um Dr. Roussel handelt.«
»Doch nicht der Tote im Nudistencamp!« Wie ein Peitschenknall kamen die Worte. Sie deutete mit unverhülltem Abscheu auf die Morgenzeitung, die gefaltet auf dem Tisch lag.
»Doch, das ist der Mann.«
»Unerhört.«
Tibbs nickte. »Jeder Mord ist unerhört.«
Sie wurden durch das Erscheinen des Mädchens unterbrochen, das einen Teewagen hereinschob, auf dem ein kostbares japanisches Service stand. Sie schob den Wagen leise durch das Zimmer und hielt neben ihrer Herrin an.
Joyce Pratt drehte sich um. »Was soll das?« fragte sie scharf.
»Ich soll doch für alle Gäste Tee machen, gnädige Frau.«
»Dieser Mann ist kein Gast.«
Ohne ein Wort kehrte das Mädchen um und schob den Teewagen wieder hinaus.
Virgil Tibbs nahm sein Notizbuch zur Hand und setzte eine amtliche Miene auf. »Mrs. Pratt, wie viele
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