Totgeburt
weiteres Gähnen. Scheiß Neugierde! Nein, scheiß Überlebensinstinkt, berichtigte sie sich.
Sie zupfte ihr Kostüm zurecht, es war ihr zwischen die Pobacken gerutscht, und kam hüpfend ins Zimmer getreten. Dabei winkelte sie einen Arm an, als ob ihre Pfote verletzt sei.
„Oh, was haben wir denn da?“, fragte der Assistent sogleich. Marie hüpfte näher heran, blieb kurz stehen und täuschte ein Schnuppern vor.
„Ein kleines Häschen!“, machte Fritz ganz überrascht. „Was hat das Häschen? Oh, es hat ein Aua.“
Marie machte ein ängstliches Gesicht.
„Du musst doch keine Angst haben, mein Kleines. Ich bin doch der Onkel Doktor.“
Sie machte einen weiteren Hopser in seine Richtung und schnüffelte.
„Der Onkel will dir nur helfen.“
Wieder hopste sie näher an ihn heran. Nun war sie in seiner Reichweite und streckte ihm schüchtern ihre Pfote beziehungsweise ihre Hand entgegen. Er griff sie und begann mit der Untersuchung.
„Oh je, das Pfötchen ist wirklich verletzt. Das tut bestimmt ganz dolle weh! Da müssen wir Verband drumwickeln. Dann geht's dir bestimmt wieder besser. Versprochen.“
Er nahm eine Rolle Mullbinde und wickelte sie um ihre Hand — bei seinen Spielen achtete er immer auf einen gewissen Realismus. Ob er in seiner Kindheit einmal davon geträumt hatte, Tierarzt zu werden? Vielleicht kompensierte er mit den Rollenspielen alte Kindheitswunden und die Erziehung war schuld an seinem Dachschaden? Ein Veterinär in der stolzen Steinmetz Familie? Undenkbar! Was sollten seine Ahnen davon halten? Vor allem der alte Willi!
Während er ihre Hand einwickelte, wollte Marie die Dramatik unterstreichen und sagte: „Aua, das tut dem Häschen weh.“ Da sagte der Mann mit unverstellter Stimme: „Hasen können nicht reden, du Schlampe!“ und kümmerte sich weiter um das Pfötchen.
Interessiert registrierte Marie die Stimmungsschwankung. Wie weit wollte sie noch gehen, war es das wirklich Wert? Lange würde sie den Idioten nicht mehr walten lassen. Ein paar Abende noch, dann würde sie die Sache anders angehen.
„Siehst du Häschen, war doch gar nicht so schlimm“, sagte er.
Anscheinend hatte er wieder zurück ins Spiel gefunden.
Doch plötzlich funkelten seine Augen auf und die Mundwinkel zuckten unkontrolliert. Sie hatte sich geirrt. Marie kannte den Ausdruck, Steinmetz hatte die Regeln des Spiels geändert, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
„Wie will das Häschen überhaupt den Onkel bezahlen? In dieser Welt gibt es nichts umsonst, auch für kleine Hoppelhasen nicht. Hast du denn Geld dabei, Häschen?“
Er erwartete eine Reaktion, also schüttelte sie ihren Kopf. Daraufhin schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. OK, das war neu. Vorher waren seine Schläge ritueller Art gewesen, nun hingegen wollte er echte Gewalt ausüben.
„Hasen können nicht mit dem Kopf schütteln“, hauchte er sie heißer an.
Er hatte die Kontrolle verloren. Sie musste aufpassen, dass sich nicht die ganze harte Arbeit innerhalb weniger Sekunden in Luft auflösen würde.
„Keine Angst, der Doktor hat da eine Idee“, sagte er und zog den Reißverschluss seiner Hose auf. „Hat das Häschen schon mal so eine große Möhre gesehen?“
Der Mann war sehr wohl für Überraschungen gut, der Irre hatte nämlich sein Glied orange gefärbt. Also hatte er die ganze Sache geplant und der Schlag ins Gesicht war demnach nicht aus dem Nichts gekommen. Steinmetz war ein besserer Spieler, als sie angenommen hatte.
Es war ein weiter Weg gewesen vom ersten langweiligem Date, über die verschiedenen Rollenspiele, bis hin zum heutigen Abend. Was hatte sie vor kurzem gedacht? Das er sich in sie verliebt hatte. Vielleicht hatte er das sogar, aber Menschen wie er waren zu gestört für die Liebe. Oh ja, sie wusste sehr wohl, dass es echte Liebe gab. Keine Sekunde lang hätte sie daran gezweifelt, zu oft hatte sie es dafür schon erlebt.
Marie hatte kein Problem mit Menschen wie Steinmetz, sie zehrte doch selbst vom Hass. Es war nur so, dass sie es gewohnt war, auf der austeilenden Seite zu stehen. Er hatte sich schlicht und ergreifend die falsche Person für seinen Scheiß ausgesucht. Sie lächelte. Steinmetz hatte sich von ihrem weiblichen Körper irreführen lassen.
Für sie war ihr weiblicher Körper kein Hemmnis. Waren nicht alle Körper bloß faules Fleisch, Gammelfleisch sozusagen? Deshalb würde sie sich niemals auf diese wertlose Hülle reduzieren lassen. Vielmehr war sie das Kind eines Gottes und
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