Totgekuesste leben laenger
Genauso wenig wie die antik aussehende Tagesdecke und das Meer spitzenbesetzter Kissen, die ich alle Nacht für Nacht vom Bett schmiss, um meinem Dad weiszumachen, dass ich schlief. Das Blassrosa der Wände hatte allerdings etwas Beruhigendes und passte gut zum cremefarbenen Teppich. Alles hier schrie geradezu heraus, dass Dad vergessen hatte, dass ich nicht mehr sechs war. Oder warum hatte er mein Zimmer mit lauter schnörkeligem Kleinmädchenkram in Rosa und Weiß vollgestopft, mit dem ich eigentlich schon seit Jahren nichts mehr zu tun haben wollte?
Meine Hände hielten mitten im Kissen-Zurechtzupfen inne, als mir klar wurde, dass mein Zimmer noch fast genauso aussah wie damals, bevor wir gegangen waren. So wie die Küche und das Wohnzimmer, alles flüsterte leise den Namen meiner Mutter. Noch jemand also, der nicht loslassen konnte.
In meine Grübeleien vertieft, nahm ich die Kamera wieder in die Hand. Es war schlimm gewesen, Wendy nicht mehr täglich sehen zu können. Wir kannten einander seit der fünften Klasse. Wenn ich darüber nachdachte, war sie vermutlich der Grund gewesen, warum ich es nie so ganz in die Clique geschafft hatte. Denn sie war noch sonderlicher als ich. Doch ich hatte sie nicht fallen lassen, als ich endlich in den erlauchten Zirkel aufgenommen worden war. Stattdessen hatte ich versucht, sie zu integrieren. Wendy, mit ihrer umweltbewussten Jutetasche und ihrer dröhnend lauten Musik voller politischer Messages, hatte die ganze Zeit zu mir gehalten. Sie wusste, dass ich einen Fehler machte. Und sie war selbstbewusst genug, um darauf warten zu können, dass ich es selbst einsah. Freunde wie sie waren zwischen all den Amys und Lens dieser Welt eher rar gesät. Josh allerdings war, wie sich herausgestellt hatte, doch ziemlich cool.
Der Auslöser klickte. Ich ließ Arm und Mundwinkel gleichermaßen sinken und stöpselte die Kamera in meinen Laptop ein. Wenigstens den hatte ich hierher mitbringen dürfen und er sah angemessen düster und melancholisch aus. Den Desktophintergrund bildete ein Foto meiner Lieblings-Alternativeband, die ich über Wendy kennengelernt hatte. Ehrlich gesagt, interessierte mich ihr aggressiver Sound mehr als die Botschaft, die dahintersteckte.
Mein Foto erschien sofort und ich öffnete es, um mir die Auflösung anzugucken.
Meine Haut war immer noch gebräunt vom Strand, was seltsam war. Ich schrieb es der Tatsache zu, dass ich gar keinen richtigen Körper hatte. Die lila Spitzen in meinem Haar fingen allerdings an zu verblassen. Seit ich tot war, wuchs mein Haar nicht mehr und ich fragte mich schon, ob ich jetzt für immer so aussehen würde. Mein Blick wanderte zu meiner bescheidenen Oberweite und ich seufzte. Nicht gut. Gar nicht gut. Doch als ich mir das Bild noch näher ansah, durchfuhr mich ein eiskalter Schreck.
»Mist«, flüsterte ich. Ich konnte mein Bett hinter mir sehen. Ich meine, ich konnte durch mich durch bis zu meinem Bett gucken. Ängstlich sah ich mir meine Hände an. Mir kamen sie sehr undurchsichtig vor, aber das Foto behauptete das Gegenteil.
»Mist, Mist …« Ich stellte mich vor den Spiegel, die Angst ließ die Erinnerung meines Herzens hämmern. Auch da sah ich okay aus, aber als ich die Kamera nahm und mich durch das Objektiv ansah … »So ein Mist!«, fluchte ich zum dritten Mal. Es war nicht allzu auffällig, aber man sah die Andeutung eines Schattens, wo das Bett sich befand, und sogar die Umrisse der Kissen.
Genau so was konnte ich ja gerade super gebrauchen. Jeden Moment würde Josh an die Tür klopfen und mich zu meinem Kampf gegen den fiesen Oberreaper abholen, dem ich das Amulett klauen musste. Ich hatte jetzt keine Zeit für so eine Materiebehinderung. Besorgt umklammerte ich mein Amulett und versuchte mich zu beruhigen, um mich in diese neblige Sphäre von gestern zu versetzen und nachzugucken, ob dort alles in Ordnung war. Hatte ich vielleicht zu viele Fäden zerrissen, als ich geübt hatte, mich unsichtbar zu machen? Vielleicht hatte ich ja irgendwas aufgeribbelt, das sich nun immer weiter auflöste? Grace hatte mir ja gesagt, ich sollte es sein lassen. Doch wenn ich nicht endlich aufhörte, wie verrückt zu schlottern, würde ich es wohl nie erfahren! Jetzt machte es sich endlich bezahlt, dass ich mit Barnabas eine halbe Ewigkeit auf dem Dach geübt hatte, mich zu entspannen. Langsam verschwand mein Puls und mein Kiefer lockerte sich. In meinen Gedanken fand ich die verschwommene Vorstellung meines Lebensfadens und das
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