Totgelesen (German Edition)
auf.
Die Doppeldeutigkeit ließ ihn schmunzeln.
Seit dem Rauswurf hatte Sascha sich nicht mehr blicken lassen. Ihn zu suchen oder ihm gar nachzulaufen, stand für Specht allerdings nicht zur Debatte.
Specht drückte das Gaspedal durch. Noch 15 Kilometer.
Eine viertel Stunde - und tausend Gedanken - später, stieg er aus seinem Wagen und knallte die Autotür zu. Eine kleine Frau spähte aus der Eingangstür des 50iger Jahre-Baus vor ihm. Ihr teils ergrautes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten. Ihre Augen waren geschwollen und rot, zerflossene Wimperntusche verstärkte ihre dunklen Augenringe. Sie sah Specht an, als ob sie nicht dazu fähig wäre, ein Wort an ihn zu richten, geschweige denn, ihn hereinzubitten.
Specht stellte sich vor. Doch von der kleinen Frau kam kein Wort; sie trat lediglich einen Schritt zur Seite, damit er eintreten konnte. Danach folgte er ihr in einen Raum, der aussah, als wäre er einem Heimatmuseum nachempfunden: Möbel aus dunklem Holz mit bunten Bauernmalereien verziert, Vorhänge aus selbstgewebten Bauernleinen und gehäkelte Spitzendeckchen. Auf einem Kasten prangte die Zahl 1876 und neben dem Fenster ein massiver Holztisch, dessen Eckbank und Sessel genauso kunstvoll geschnitzt und mit denselben Malereien wie die Kästen verziert waren. Auf dem Tisch stand eine alte Petroleumlampe, die anscheinend in so manch kalter Winternacht wirklich noch benutzt wurde.
»Alles Erbstücke aus dem Haus meiner Großeltern.«
Specht drehte sich um. Unbemerkt war ein stämmig wirkender Mann ins Zimmer getreten. Zwar hatte er nicht so offensichtlich geweint wie die Frau, aber er sah erbärmlich aus.
»Ich habe gesehen, dass Sie unsere Stube bestaunen, das geht den meisten so, wenn sie das erste Mal hier sind.«
Specht kam sich vor, als ob er bei etwas Verbotenem ertappt worden wäre.
»Herr Schindler? Mein aufrichtiges Beileid.« Die hingehaltene Hand wurde von Herrn Schindler kräftig gedrückt.
»Sie war unsere einzige Tochter.« Schindler setzte sich und deutete Specht, es ihm gleichzutun. Die Frau war verschwunden.
»Es tut mir leid, Sie in ihrer Trauer zu stören, aber es gibt einige Fragen, die ich Ihnen stellen muss.« Specht nahm auf einem der Stühle Platz, die bequemer waren, als sie aussahen.
»Ich habe damit gerechnet, dass Sie kommen würden. Also fragen Sie.« Schindler fuhr sich mit seiner Pranke über den Kopf, um seine - noch immer fülligen, nur leicht ergrauten Haare - nach hinten zu streichen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer das Ihrer Tochter angetan haben könnte?«
»Ja. Zwar kann ich es nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dass er es war. Sonst gibt’s keinen, der meinem armen kleinen Mädchen so was antun könnte.« Schindler schaute mit versteinerter Mine an Specht vorbei zu einer Uhr, bei der jeden Moment die Tür aufgehen konnte und ein Kuckuck die volle Stunde verkünden würde.
»Von wem sprechen Sie, Herr Schindler?« Der Mann verschränkte seine Hände vor der Brust, wartete, bis der tatsächlich erschienene Vogel sich wieder in seine Kammer verzogen hatte, und antwortete: »Na, von dem Ehebrecher, von dem Kinderschänder, der sie vor ein paar Monaten verführt hat. Sie war das erste Mal verliebt - was uns recht war, solange er sie nicht anrührte. Sie war glücklich, das war die Hauptsache. Wir hätten uns sicher irgendwann abgefunden mit einem Grazer als Schwiegersohn. Alles war in Ordnung, bis sie uns vor einem Monat beichtete, sie wolle zu ihm ziehen.« Schindlers Stimme wurde lauter, als er fortfuhr: »Sie hatte bei uns alles, was sie wollte. Wofür sollte das denn gut sein? Meine Frau und ich waren natürlich dagegen.«
»Warum? Sie war doch mit 30 alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen?« Specht rutschte die Frage über die Lippen, bevor er überlegen konnte, welche Folgen sie haben würde.
»Sie können mich ruhig konservativ nennen, aber meine Tochter soll als Jungfrau in die Ehe
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