Totgesagt
anfangen. Andere Töchter hätten es vermutlich längst weggeworfen. Nicht so Madeline. Die hortet alles.”
“Vielleicht deswegen, weil ihr so viel im Leben entgangen ist.”
“Und ich, ich werde die Vergangenheit auch nicht los”, murmelte sie. “Und wenn ich mich auf den Kopf stelle.”
Ob man nun wollte oder nicht – man musste Irene mögen. Irgendwie hatte sie etwas Sympathisches, Kindliches an sich. “Apropos Vergangenheit: Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen über Ihren Gatten stellen.”
Schlagartig war der argwöhnische Ausdruck zurück. “Ich habe doch schon alle möglichen Fragen beantwortet.”
“Vielleicht habe ich ja ein paar neue.”
“Das wage ich zu bezweifeln.” Sie schaute zum Fenster.
“Erwarten Sie Besuch?”
Ohne auf seine Frage einzugehen, wandte sie sich in Richtung Küche. “Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?”
“Nein, danke. Es dauert nicht lange. Ich …”
Sie fiel ihm ins Wort. “Madeline beantwortet meine Anrufe nicht”, klagte sie und blieb stehen.
Erst dachte er, sie wolle ihm ausweichen, aber dann erkannte er, dass die Betroffenheit in ihrem Blick echt war. Um Madelines willen versuchte er, sie zu beruhigen. “Dazu hatte sie auch keine Gelegenheit. Seit meiner Ankunft hier ist sie ja ständig beschäftigt.”
“Zu beschäftigt, um ihre Mutter anzurufen?”
“Sie tut sich schwer damit, dass Sie mich hier nicht haben wollen. Schließlich war sie es, die mich hergeholt hat.”
Seine ehrliche Antwort verlangte geradezu nach einer ebenso unverblümten Reaktion. Und tatsächlich, Irene enttäuschte ihn nicht. “Hat sie etwa erwartet, dass ich in Begeisterungsstürme ausbreche?”
“Nein, keineswegs. Sie hat es halt nicht leicht, ist momentan hin- und hergerissen. Zwischen der Liebe und Loyalität zu Ihnen und der zu ihrem Vater.”
“Leicht hat’s keiner von uns”, betonte Irene. “Und das Leben wird auch nicht einfacher. Glauben Sie’s mir, ich weiß, wovon ich rede.”
Was mochte sie damit meinen? Kummer und Leid, weil ihr Mann sie verlassen hatte? Ständige Angst, das Jugendamt könne ihr die Kinder entziehen? Die wenig herzliche Aufnahme bei ihrem Umzug nach Stillwater? Den mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung? Die Vorurteile und das Misstrauen, denen sie seitdem ausgesetzt war? Oder den Mord an einem Mann, dem sie dahintergekommen war, dass er ihre Tochter missbrauchte?
Sie wollte sich aussprechen, das spürte man regelrecht. Sie wirkte müde, verzweifelt, wie auf der Suche nach einer sicheren Bleibe, die ihr immer verwehrt worden war. Sie tat ihm leid; in vieler Hinsicht erschien sie harmlos. Dennoch bot sie ihm auch eine Chance, die es zu nutzen galt. “Vielleicht ist es an der Zeit, endlich reinen Tisch zu machen”, meinte er.
Sofort straffte sie sich. “Habe ich gar nicht nötig. Und jetzt gehen Sie, bitte. Ich habe die Nase voll von der Vergangenheit. Die ist vorbei, kapiert? Vorbei! Ich habe nur getan, was …”
“Was?”, fasste er nach. “Was haben Sie getan?” Sie wusste mehr über Barkers Verschwinden, als sie zugeben wollte. Genau wie Clay.
“Nichts!”, stieß sie mit angstgeweiteten Augen hervor. “Nichts hab ich getan!”
Sie wurde aufgeregt, panisch. Um sie zu beruhigen, gab er dem Gespräch eine andere Richtung. Konnte man sie weiter in ein Gespräch verwickeln, ließ sich eventuell erfahren, was sie ihm einerseits gern offenbart hätte und gleichzeitig so verzweifelt zu verschweigen suchte. “Hat Ihr Mann mal mit Ihnen über seine erste Frau gesprochen?”
Sie klappte den Mund auf, als sei sie verblüfft über die Frage. Erst sah es so aus, als müsse sie überlegen, als fürchte sie eine Falle. “Gelegentlich schon mal”, murmelte sie zögernd.
“Hatten Sie den Eindruck, dass er sie vermisste?”
“Nein. Er ließ nie ein gutes Haar an ihr, obwohl ich ihn angefleht habe, sie nicht in Madelines Beisein schlechtzumachen. Kein Kind sollte solche Sachen über seine Mutter hören.”
“Was für ‘Sachen?’“, wollte er wissen.
“Er hat Eliza gehasst. Fertig, aus!”
Aufgrund der Einträge in Elizas Tagebüchern hatte Hunter so etwas Ähnliches schon geahnt, auch wegen der Inhalte von Barkers Predigten. Oft ging es darin um Entsagung, Eigenverantwortung und aus Not erwachsener Stärke – alles Tugenden, an denen es seiner ersten Frau nach seiner Meinung mangelte. In einer Predigt ging er sogar so weit zu behaupten, dass Depressive von Gott für die Sünde der
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