Totgeschwiegen
Grund gesucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber mittlerweile waren zwei Stunden vergangen, seit sie ihn angerufen hatte. Ihr war nichts Besseres eingefallen als die Wahrheit. Sie wollte einfach nur seine Stimme hören.
“Grace? Ich bin’s”, sagte er und klopfte noch einmal an die Tür, als er keine Antwort bekam.
Sollte sie sich schlafend stellen? Oder so tun, als sei sie nicht zu Hause? Aber seit seine Mutter sie besucht und sie mit Clay die Sachen ihres Stiefvaters weggepackt hatte, fühlte sie sich wie … ein neuer Mensch. Es kam ihr vor, als stehe sie kurz vor einer ungeheuren Entscheidung. Alles schien auf ein einziges Ziel hinauszulaufen – auf ihn.
“Grace?”, rief er ein zweites Mal.
Sie strich ihr Top und ihre Shorts glatt, ging zur Tür und zog sie auf.
Er schaute sie an, als würde er sie am liebsten in seine Arme ziehen. Aber er bewahrte Haltung. “Hi.”
Sie war so aufgeregt, dass sie kaum sprechen konnte. “Hallo.”
“Du hast angerufen …”
Sie überlegte kurz, ob sie ihm eine der Entschuldigungen auftischen sollte, die sie sich ausgedacht hatte:
Heath hat seine Badehose hier vergessen, und ich habe gedacht, du könntest sie abholen … Ich habe Zimtbrötchen gebacken, die die Jungs bestimmt gern zum Frühstück essen würden.
Aber sie sah keinen Sinn darin.
“Ja”, antwortete sie knapp.
Er wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Als das nicht geschah, fragte er: “Was wolltest du denn?”
Sie war wie gebannt von seinen leuchtend grünen Augen. Sein sanftes Gesicht zog sie hypnotisch an. “Dich sehen”, gab sie zu.
Seine Augenbrauen schnellten nach oben. “Heute Abend noch?”
“Warum nicht?”
“Warum nicht?”, wiederholte er nachdenklich, als wären diese zwei Worte mit einer ungeahnten Bedeutung aufgeladen.
Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Dann zögerte sie. “Willst du nicht lieber woanders parken?”
“Wegen der Vincellis?”, fragte er. “Vergiss es. Ich werde nirgendwo anders parken.”
Offensichtlich hatte er die Sturheit seiner Mutter geerbt. Das war ihr bisher noch gar nicht aufgefallen. “Ich mache mir Sorgen, dass du und deine Familie stolzer seid, als euch gut tut.”
“Sollen die Leute darüber doch denken, was sie wollen.”
“Aber du bist Bürgermeisterkandidat.”
“Wenn ich gewählt werde, tue ich mein Bestes. Das ist alles, was ich den Wählern dieser Stadt schuldig bin.”
“Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir so egal ist, ob du gewinnst.”
“Es ist mir nicht egal. Aber ich lasse mir nicht von anderen Leuten vorschreiben, wie ich mein Leben leben soll.”
Sie schüttelte den Kopf über so viel Starrsinn. “Fein. Wie du meinst.”
Er schwieg.
“Also … möchtest du vielleicht ein Glas Wein?”
“Gern.”
Sie führte ihn in die Küche und nahm eine Flasche Merlot aus dem Regal. Gerade als sie nach dem Korkenzieher griff, fasste er sie an den Händen.
“Was ist denn passiert?”, fragte er, als er die Striemen und Prellungen bemerkte, die sie sich beim Aufräumen des Büros ihres Stiefvaters zugezogen hatte.
Sie zuckte mit den Schultern. “Ich habe wohl ein bisschen zu verbissen im Garten gearbeitet.” Sie starrte auf seine Daumen, die die Innenseite ihres Handgelenks streichelten, und spürte den Drang, ihn zu umarmen, sich ihm hinzugeben. Mit einem Mal stellte sie sich vor, wie sie nackt auf ihm saß und ihn ansah, während er in sie eindrang und …
Sie war völlig überrascht. Nach so langer Zeit, im Alter von einunddreißig Jahren war sie mit einem Mal so weit, sich nach körperlicher Liebe zu sehnen. Und während sie es tat, spürte sie eine wohlige Sehnsucht in sich aufsteigen, die sie ganz benommen machte.
Er verhakte seine Finger mit ihren. “Grace …”
Der Klang seiner Stimme machte sie nervös. “Was?”
“Ich weiß, dass du nicht darüber sprechen willst, aber …”
Angespannt erwartete sie, was als Nächstes kommen sollte.
“… ich muss wissen, was in dieser Nacht passiert ist, als der Reverend starb. Ich muss es wissen, bevor es zwischen uns weitergeht.”
Sie stieß seine Hände von sich. “Nichts ist passiert. Das habe ich dir und allen anderen doch schon erzählt. Er ist … einfach verschwunden.”
Er schien hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. “Ich würde dir ja gerne glauben, wirklich. Aber wir wissen doch beide, dass es nicht stimmt. Seit ich die Bibel gefunden habe, ist das doch offensichtlich.”
Was sollte sie darauf antworten?
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