Totgeschwiegen
sich mit Tränen. “Ich komme nie mehr wieder!”, rief er aus und rannte davon.
Wie betäubt starrte Grace auf die Lebensmittel, die auf dem Tisch vor ihr standen. Eigentlich hatte sie mit Teddy in die Bücherei gehen wollen, um ein paar lustige Geschichten auszuleihen. Aber nun war niemand mehr da, dem sie etwas vorlesen konnte.
Schon wieder seine Mutter! Wenn Rodney Gragner ein paar Pfirsiche an seinen Bäumen übrig hatte, rief sie an, um ihm nahezulegen, dass er mit seinen Söhnen doch schnell mal ein paar Pfund pflücken könnte. Wenn sie beabsichtigte, einen Teppichreiniger zu mieten, rief sie an, um ihn zu bitten, die Maschine abzuholen. Wenn es ihr gelungen war, eine Nibley-Anhängerin davon zu überzeugen, die Seite zu wechseln, rief sie an, um ihm mitzuteilen, dass sie ihm eine weitere Stimme verschafft hatte. Kennedy fühlte sich zwar ein wenig von seiner Mutter belagert, aber sie passte nun mal tagsüber auf seine Söhne auf, und er wollte seine Jungs niemand anderem anvertrauen. Raelynns Tod und die Krankheit seines Vaters hatten ihm nur allzu deutlich klargemacht, dass es nichts Wichtigeres gab als die Familie.
Er seufzte schicksalsergeben und nahm das Gespräch an. Sie würde es ohnehin immer wieder versuchen, und wenn sie seine Mailbox mehr als zweimal erreicht hatte, ging sie immer dazu über, seine Sekretärin anzurufen, um ihn auf diese Weise festzunageln. Es gab kein Entrinnen.
“Hallo?”, meldete er sich.
“Kennedy?”
“Was gibt’s denn?”
“Teddy ist völlig aufgelöst.”
“Wieso? Hast du ihn ausgeschimpft, weil er wieder zu lange weggeblieben ist?”
“Nein. Er ist heute viel früher gekommen. Er ist gleich ins Baumhaus geklettert und will nicht mehr rauskommen. Irgendwas ist passiert, als er bei dieser Frau war.”
Grace.
Abgesehen von Irene Barker war Grace die einzige Person, die seine Mutter ‘diese Frau’ nannte.
“Weißt du, was passiert ist?”
“Er redet ja nicht mit mir.”
Das Missfallen in ihrer Stimme war deutlich zu hören. “Ich hab dir doch gleich gesagt, dass es nicht gut ist, wenn er dort hingeht.”
“Hol ihn mal ans Telefon.”
Kennedy wartete einige Minuten und glaubte schon, seine Mutter würde es nicht schaffen, den Jungen zu überreden, da meldete sich Teddy schüchtern. “Hallo?”
“Hallo, mein Junge. Was ist los?”
“Gar nichts”, brummte Teddy. “Ich bin doch pünktlich nach Hause gekommen.”
“Das weiß ich”, sagte Kennedy. “Ich möchte aber gern wissen, was bei Grace heute vorgefallen ist.”
“Gar nichts.”
“Als ich nach dem Mittagessen vorbeigefahren bin, war der Stand aufgebaut, nur euch beide habe ich nicht gesehen. Habt ihr gar nicht aufgemacht?”
“Doch. Eine Weile. Aber …” Seine Stimme überschlug sich. “… sie will mich nicht mehr dabeihaben. Sie mag mich nicht mehr.”
Kennedy erinnerte sich an die vertraute Szene auf der Veranda. “Wie kommst du denn darauf?”
“Sie hat mir gesagt, ich soll die ganzen Kekse nehmen und nach Hause gehen.”
“Vielleicht war sie müde und wollte sich ausruhen?”
“War sie nicht.”
“Woher weißt du das denn?”
“Es war, weil ich ihr gesagt habe, dass du mein Dad bist.”
Kennedy richtete sich auf. “Das hat sie also noch gar nicht gewusst?”
Schweigen.
“Teddy?”
“Ich konnte es ihr doch nicht sagen. Sie will doch, dass Vicki Nibley Bürgermeisterin wird.”
“Und warum hast du es ihr ausgerechnet heute gesagt?”
“Ich wollte ja warten, bis du sie fürs Wochenende einlädst, aber dann ist Mrs. Reese gekommen und wollte Pfirsiche kaufen und hat gesagt, dass Oma es bestimmt nicht gut findet, wenn ich da bin …”
Kennedy konnte sich gut vorstellen, in welchem Ton die alte Fregatte das von sich gegeben hatte. Sie war Grace’ Englischlehrerin. Grace hatte immer hinten in der Ecke gesessen, und Joes Freundin hatte mit dem Blasrohr Papierkügelchen auf sie geschossen. Mrs. Reese war nicht müde geworden, laut zu fragen, warum Clays kleine Schwester nicht mit den anderen in der Klasse mithalten konnte. “Das war bestimmt ein tolles Zusammentreffen.”
Teddy schniefte. “Ich glaube, sie mag Mrs. Reese nicht.”
“Wahrscheinlich nicht.” Das ist nur zu verständlich, dachte Kennedy. Mrs. Reese ist schon immer übereifrig darauf bedacht gewesen, anderen Leuten ungebetene Ratschläge zu geben. “Mach dir keine Sorgen. Es kommt schon wieder alles in Ordnung.”
Ihre Unterhaltung stockte. Als Teddy weitersprach, hörte Kennedy einen
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