Totgeschwiegen
die Erwachsenen aber neugierig an.
“Warum?”, fragte Grace.
“Wenn du dich so sehr abkapselst, verpasst du vielleicht die tollsten Sachen.”
“Ach, na ja”, sagte sie und verschränkte die Arme. “Aber zumindest werde ich überleben.”
Das schien ihn getroffen zu haben, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wieso.
“So kann man nicht leben”, stellte er fest.
Sie lächelte ausdruckslos. “Manchen Menschen bleibt nichts anderes übrig.”
Grace erinnerte Kennedy an einen Kaktus. Sie konnte sehr abweisend sein. Aber dieser Charakterzug schien nicht in ihrer Persönlichkeit zu liegen, sondern hatte etwas mit ihren Erlebnissen in der Vergangenheit zu tun. Sie versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten, so gut es ging, und so wenig wie möglich an sich heranzulassen. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der so wenig von den Menschen um sich herum verlangte und sich so deutlich gegen alle abschottete.
“Was würde wohl passieren, wenn wir uns gerade erst kennengelernt hätten?”, fragte er, nachdem er auf den Weg eingebogen war, auf dem sie innerhalb von fünfzehn Minuten den See erreichen würden.
Sie war eingenickt, richtete sich aber auf, als er sie ansprach. Bevor sie antwortete, schien sie ihren Schutzpanzer zu aktivieren. Jedenfalls kam es ihm so vor. “Wie meinst du das?”
“Ich frage mich, was du wohl Schreckliches erwartest.”
“Ich weiß nicht.”
“
Ich
glaube nicht, dass etwas Schreckliches passieren wird.”
“Weil dir nie etwas Schlimmes passiert”, sagte sie. “Du bist eben unter einem Glücksstern geboren.”
Er senkte die Stimme, auch wenn die Jungs auf der Rückbank ganz mit ihren Gameboys beschäftigt waren und ganz bestimmt nicht zuhörten. “Ich habe doch schon gesagt, dass ich dich zu nichts zwingen werde. Warum machst du dir dann noch Sorgen? Etwa darüber, dass du Spaß haben könntest? Dass jemand dich kennenlernt?”
“Du kennst mich doch schon.”
Ihm fielen die Gerüchte ein, die über sie und ihre Familie in Umlauf waren, die Bibel, die sie verloren hatte, ihre abweisende Art. “Nein, tue ich nicht.”
“Das ist komisch”, stellte sie fest. “Ich kenne dich nämlich gut.”
“Bestimmt nicht. Wir sind nie …”
Sie unterbrach ihn. “Ich erinnere mich noch an dein Referat über die Delfine in der fünften Klasse. Du hast ein Mosaik aus Glasscherben gemacht. Du hast es weggeworfen, nachdem du deine Eins bekommen hattest, aber ich habe es aus dem Mülleimer geholt und mit nach Hause genommen.” Sie lachte vor sich hin. “Für mich war es das Schönste, das ich je gesehen habe. Es hing vier Jahre lang in meinem Zimmer.”
Sie zog gedankenverloren an ihrem Sicherheitsgurt. “Ich erinnere mich auch noch, wie du dir beim Basketball den Arm gebrochen hast. Das war in der siebten. Es muss furchtbar wehgetan haben, denn du fingst an zu weinen.” Ihre Stimme versagte, als würde sie noch einmal mitleiden. “Deine Mutter hat dich in eurem nagelneuen Cadillac abgeholt.”
“An dieser Verletzung war Joe schuld”, sagte Kennedy. Er fühlte sich unbehaglich, weil er sich an keine anderen Details erinnerte, außer den hässlichen Dingen, die seine Freunde über sie gesagt hatten. “Er hat mich ganz übel gefoult, als ich vor dem Korb zum Wurf ansetzte.”
Sie antwortete nicht. Offenbar war sie viel zu sehr damit beschäftigt, sich an weitere Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern. “Ich sehe dich noch vor mir, wie du im Cabriolet deines Vaters mitgefahren bist, nachdem du dein Stipendium bekommen hattest”, sagte sie. “Ich wusste von vorneherein, dass du gewinnst.” Sie lachte wieder. “Und so kam es dann ja auch.”
Wenn sie doch nur aufhören würde, dachte er.
“Und dann gab es eine Zeit, da hast du dir zusammen mit den anderen Spielern der Footballmannschaft den Kopf rasiert. Es war nicht gerade vorteilhaft, das steht mal fest, aber bei dir sah es immer noch besser aus als bei den meisten anderen. Du warst es, der den entscheidenden Treffer gegen Cambridge erzielt hat, und dann war da noch deine Abschlussrede und die Feier …”
“Hör auf”, sagte er leise. Auch er erinnerte sich an die Abschlussfeier, als sie zu ihm gekommen war und ihn angelächelt hatte, als wollte sie ihm alles Gute wünschen – und er hatte sich abgewandt und so getan, als ob sie gar nicht da wäre.
Sie sagte nichts mehr, und sie fuhren schweigend weiter, bis sie den Campingplatz erreichten. Nachdem er die Gebühr bezahlt und den Wagen auf dem
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