Toxin
ausgehen.«
»Wenn du meinst«, entgegnete Tracy wenig überzeugt. Sie zogen ihre Mäntel aus und wischten sich die Tropfen von der Stirn. Dann brachten sie ihre Tüten und Pakete in die Küche. »Soll ich dir etwas sagen?« sagte Tracy, als sie die Tasche mit den Lebensmitteln auf die Küchentheke stellte. »Ich habe wirklich Lust, uns etwas zu kochen und dir mit den Haaren zu helfen, aber zuerst würde ich gerne duschen. Vielleicht wird mir dadurch etwas wärmer. Hättest du etwas dagegen, wenn ich mal kurz ins Bad verschwinde?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Kim. »Du kannst duschen, so lange du willst.«
»Eigentlich ist es ja traurig«, fügte sie hinzu. »Aber die Dusche ist das einzige, was ich an diesem Haus vermisse.«
»Kann ich gut verstehen«, entgegnete Kim. »Außer dem Bad haben wir in diesem Haus ja auch nichts selber gemacht. Nimm dir Handtücher und einen Bademantel, wenn du möchtest! Es sind auch noch ein paar Sachen von dir hier. Ich habe sie im Dielenschrank verstaut.«
»Keine Sorge«, versicherte Tracy. »Ich finde schon, was ich brauche.«
»Am besten mache ich mal Feuer im Kamin«, erklärte Kim. »Vielleicht wirkt dieses leere Haus dann nicht mehr ganz so deprimierend.«
Während Tracy nach oben ging, nahm Kim eine Taschenlampe aus einer Schublade in der Küche und stieg hinunter in den Keller, wo er das Kaminholz aufbewahrte. Er schaltete zwar das Licht ein, doch die einzelne Glühbirne reichte bei weitem nicht aus, den riesigen Keller zu beleuchten.
Aufgrund einer schrecklichen Kindheitserfahrung hatte Kim sich in Kellern nie wohl gefühlt. Als er sechs Jahre alt gewesen war, hatte sein älterer Bruder ihn in dem unbenutzten Weinkeller seines Elternhauses eingesperrt und dann vergessen. Durch die isolierte Tür hatte niemand seine hysterischen Schreie und sein panisches Klopfen gehört. Erst als seine Mutter sich Sorgen gemacht hatte, weil er nicht zum Abendessen erschienen war, hatte sein Bruder sich an ihn erinnert. Selbst nach achtunddreißig Jahren schaffte er es nicht, einen Keller zu betreten, ohne an dieses Horrorerlebnis zu denken. Während er sich das Holz auf die Arme lud, hörte er im Kellerraum nebenan plötzlich ein dumpfes Geräusch. Ihm sträubten sich die Nackenhaare. Er hielt inne und lauschte. Dann hörte er das Geräusch noch einmal.
Instinktiv drängte es ihn zu fliehen, doch er kämpfte mit aller Macht gegen dieses Verlangen an. Er legte das Holz ab, bewaffnete sich mit der Taschenlampe und steuerte die Tür zu dem benachbarten Kellerraum an. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und stieß mit dem Fuß die Tür auf. Als er den Strahl der Taschenlampe in den Raum richtete, starrten ihm ein halbes Dutzend winzige, rubinrote Augen entgegen, die im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwanden.
Kim seufzte erleichtert auf, ging zurück und lud sich erneut die Holzscheite auf die Arme.
Während Tracy die Treppe hinaufstieg, überkam sie ein wehmütiges Gefühl. Sie war schon lange nicht mehr im ersten Stock des Hauses gewesen. Vor Beckys Zimmer blieb sie stehen und starrte die geschlossene Tür an. Sollte sie einen Blick in das Zimmer wagen? Unschlüssig öffnete sie die Tür und blieb auf der Schwelle stehen.
Beckys Zimmer hatte sich nicht verändert. Da Kim und Tracy das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter gehabt hatten, hatte Tracy bei ihrem Auszug neue Möbel für Becky gekauft und die alten an Ort und Stelle stehengelassen. Becky hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt - sie hatte es sogar vorgezogen, die Kindersachen, wie sie sie nannte, in ihrem alten Zimmer zurückzulassen. Nicht einmal ihre Stofftiersammlung hatte sie mitgenommen.
Daß Becky nicht mehr dasein sollte, war für Tracy unfaßbar. Sie war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, erst recht seitdem ihre Beziehung zu Kim sich verschlechtert hatte. Sie holte tief Luft und zog die Tür zu. Auf dem Weg zum Schlafzimmer wischte sie sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung wußte sie, wie schwer die nächsten Monate für Kim und sie werden würden.
Sie sparte sich den Weg durch das Schlafzimmer und betrat das Bad vom Flur aus. Drinnen knipste sie das Licht an, schloß hinter sich die Tür und sah sich um. Es war längst nicht so sauber wie zu der Zeit, als sie noch in dem Haus gelebt hatte, aber mit dem Waschtisch aus Granit und der marmorgekachelten Dusche machte das Bad immer noch etwas her. Sie beugte sich vor, drehte
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