Toxin
streckte seinem neuen Vorgesetzten den hochgereckten Daumen entgegen.
Street öffnete die Tür. Selbst mit den Stöpseln in den Ohren haute es Kim anfangs fast um, so laut war der ihnen entgegendonnernde Lärm.
Kim folgte dem Aufseher in den Schlachtbereich. Samstag abend hatte der Raum vergleichsweise harmlos ausgesehen. Eigentlich hatte er geglaubt, ausreichend gegen die bevorstehende Situation gewappnet zu sein, doch er hatte sich gewaltig geirrt. Beim Anblick des Deckenförderbandes, von dem riesige, dampfende Rinderrümpfe herabhingen, wurde er grün im Gesicht. In der Luft hing der Gestank von rohem Fleisch, Blut und frischen Fäkalien.
Die leistungsstarke, auf Hochtouren laufende Klimaanlage hielt die Raumtemperatur niedrig und sorgte dafür, daß die fünfzig oder mehr toten Tiere in seinem Blickwinkel dampften. Hunderte von Arbeitern in blutbefleckten, weißen Kitteln standen Ellbogen an Ellbogen auf erhöhten Metallrosten und arbeiteten an den vorbeifahrenden Rinderrümpfen. An der Decke hing ein Gewirr aus Starkstromkabeln, das an ein riesiges Spinnennetz erinnerte. Alles in allem hatte Kim das Gefühl, vor einem surrealen, dantesken Bild des Infernos zu stehen: eine Hölle auf Erden.
Der Aufseher klopfte Kim auf die Schulter und zeigte auf den Boden. Kim senkte den Blick. Der Fußboden im Schlachtbereich war buchstäblich ein See aus Blut, Fleischfetzen, Erbrochenem und wässrigem Kuhdurchfall. Street klopfte noch einmal auf Kims Schulter. Kim sah auf. Street wollte ihm gerade den Besen reichen, als er Kims Gesichtsfarbe registrierte und sah, daß seine Wangen sich wider Willen nach außen blähten. Er ging vorsichtshalber einen Schritt zurück und deutete hektisch zur Seite. Kim würgte und preßte sich die Hand vor den Mund. Er folgte dem Zeigefinger des Aufsehers und entdeckte eine Tür mit der hingekritzelten Aufschrift: Herren.
Er stürzte sich auf die Tür, riß sie auf und steuerte schnurstracks das Waschbecken an. Gestützt auf das kalte Steingut beugte er sich nach vorn und erbrach in mehreren Schüben das Frühstück, das er am Morgen zusammen mit Tracy eingenommen hatte.
Als das Würgen endlich aufhörte, spülte er das Waschbecken aus, hob den Kopf und betrachtete sich in dem gesprungenen, schmierigen Spiegel. Er war leichenblaß, und seine Augen waren rot geschwollen. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
Er stützte sich wieder auf den Waschbeckenrand ab und holte den Kopfhörer hervor, den er aufgewickelt unter seinem Hemd versteckt hatte. Mit zitternden Fingern zog er einen der Ohrenstöpsel heraus, die der Aufseher ihm gegeben hatte, und stöpselte sich den Kopfhörer ins Ohr.
»Tracy, hörst du mich?« fragte er heiser. »Ich habe meinen Kopfhörer drin. Du kannst mit mir reden.«
»Was ist passiert?« fragte Tracy. »Hast du eben heftig gehustet?«
»Gehustet ist gut«, gestand Kim. »Ich habe gerade mein Frühstück dem Waschbecken geschenkt.«
»Du klingst ja furchtbar«, stellte Tracy fest. »Bist du in Ordnung?«
»Nicht wirklich«, gestand Kim. »Mein Gott, wie peinlich mir das ist! Ich hätte nie im Leben gedacht, daß ich bei meinem medizinischen Hintergrund so heftig reagieren würde. Du machst dir kein Bild, wie es hier aussieht. Es ist einfach… unbeschreiblich.« Er sah sich um und stellte fest, daß er noch nie im Leben in einer schmutzigeren Herrentoilette gewesen war. Die Wände waren verschmiert und mit unflätigen, vor allem in spanischer Sprache verfaßten Graffiti-Sprüchen übersät. Der Fußboden sah aus, als wäre er noch nie gewischt worden; er war mit einem Film aus dem widerwärtigen Dreck überzogen, den die Männer aus dem Schlachtbereich mit hereingebracht hatten.
»Willst du aufhören?« fragte Tracy. »Ich habe nichts dagegen.«
»Noch nicht«, erwiderte Kim. »Aber eins kann ich dir sagen: Ich war zwar bisher nur zwanzig Sekunden im Schlachtbereich, aber das hat mir schon gereicht, um ab sofort Vegetarier zu sein.«
Das plötzliche Rauschen der Spülung in einer der beiden Toiletten ließ ihn zusammenfahren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht nachzuprüfen, ob vielleicht eine der Toiletten besetzt war. Hektisch riß er sich den Kopfhörer aus dem Ohr und stopfte ihn unter sein Hemd. Dann tat er so, als ob er sich die Hände wusch. Hinter sich hörte er, wie jemand schwungvoll die Toilettentür aufriß.
Er fragte sich, was der Unbekannte wohl mitbekommen hatte, und wagte nicht, in seine Richtung zu sehen. Statt dessen hob er den Kopf
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