Toxin
Mitternacht sein können. Die Nacht war mondlos, nur am östlichen Horizont, wo die Lichter der Stadt von der tiefhängenden Wolkendecke reflektiert wurden, schimmerte ein schwacher Lichtstreif. Das Haus war absolut dunkel und türmte sich wie ein großer Fels vor ihm auf.
Kim öffnete die Wagentür. Die angehende Innenbeleuchtung erlaubte ihm, die Pappschachteln mit dem chinesischen Fast food zusammenzusuchen, das er sich auf dem Nachhauseweg geholt hatte. Sein letzter Patient war Viertel nach sieben gegangen.
Beladen mit dem Essen und der Schreibarbeit, die er an diesem Abend zu erledigen hoffte, ging er Richtung Haustür. So dunkel, wie es war, konnte man sich kaum vorstellen, daß im Sommer um diese Uhrzeit noch nicht einmal die Sonne untergegangen war.
Er hörte das Telefon, noch bevor er die Tür erreicht hatte. Es bimmelte aufdringlich durch die Dunkelheit. Ohne zu wissen warum, verspürte er einen Anfall von Panik. Er ließ den Papierstapel fallen und suchte hektisch nach seinem Schlüsselbund. Als er ihn hatte, fand er den richtigen Schlüssel nicht und mußte auch noch die Essensschachteln abstellen, um beide Hände frei zu haben. Schließlich bekam er die Tür auf und stürmte hinein.
Er knipste das Licht in der Diele an und stürzte zum Telefon. Irgendwie war er von der irrationalen Angst geplagt, daß der Anrufer, wer auch immer es sein mochte, wieder auflegte, bevor er den Hörer abnahm. Doch er hatte Glück. Es war Tracy. »Becky geht es schlechter!« Sie klang verzweifelt und war den Tränen nahe.
»Was ist passiert?« fragte Kim, während ihm vor Schreck beinahe das Herz stehenblieb.
»Sie hat starke Blutungen!« schrie Tracy hysterisch. »Die ganze Toilette ist voller Blut.«
»Ist sie bei klarem Verstand?« fragte Kim schnell. »Ja«, erwiderte Tracy. »Sie ist sogar ruhiger als ich. Im Moment liegt sie auf der Couch.«
»Kann sie sich auf den Beinen halten?« wollte Kim wissen. »Oder ist ihr schwindelig?«
»Gehen kann sie«, erwiderte Tracy. Allmählich wirkte sie wieder etwas gefaßter. »Ein Glück, daß ich dich erreicht habe. Ich wollte schon den Notarzt anrufen.«
»Dann setz sie ins Auto, und fahr mit ihr zur Notaufnahme! Vorausgesetzt natürlich, du fühlst dich in der Lage zu fahren. Sonst kann ich euch auch einen Krankenwagen schicken.«
»Ich kann selber fahren«, sagte Tracy.
»Dann treffen wir uns gleich in der Notaufnahme«, sagte Kim und legte auf. Er stürzte ins Arbeitszimmer und riß die mittlere Schublade seines Schreibtisches auf. Hastig durchwühlte er den Inhalt nach seinem Adreßbuch. Als er es gefunden hatte, klappte er die Seite mit dem Buchstaben T auf und fuhr mit dem Finger über die Einträge, bis er den Namen George Turner gefunden hatte. Er holte sein Handy hervor, tippte die Nummer ein und drückte auf »Wählen«.
Das Telefon ans Ohr gepreßt, rannte er zurück zum Auto. Als er in den Wagen stieg, meldete sich Mrs. Turner. Ohne irgendwelche einleitenden Höflichkeitsfloskeln fragte er, ob er mit George reden könne. Als dieser an den Apparat kam, schoß Kim bereits rückwärts aus der Einfahrt.
»Tut mir leid, daß ich Sie stören muß«, begann Kim. »Sie stören mich nicht«, entgegnete Dr. Turner. »Was gibt’s? Nichts Ernstes, hoffe ich.«
»Ich fürchte doch«, erwiderte Kim und schränkte dann schnell ein: »Na ja, es steht nicht gerade der Weltuntergang bevor. Becky ist krank. Sie hat Dysenterie-Symptome: Krämpfe, Durchfall und seit neuestem auch Darmblutungen. Allerdings hat sie kein Fieber.«
»Oh!« entgegnete Dr. Turner. »Tut mir leid, das zu hören.«
»Wir haben uns nie um einen neuen Kinderarzt gekümmert, nachdem Sie weggezogen sind«, erklärte Kim schuldbewußt. »Und die wenigen, die ich sonst noch kannte, haben die Stadt verlassen, genauso wie Sie. Deshalb mußten wir Becky gestern abend in die Notaufnahme des University Med Centers bringen, was ziemlich furchtbar war: Wir mußten geschlagene drei Stunden warten.«
»Mein Gott!« entgegnete Dr. Turner. »Das ist ja der reine Horror.«
»Es ist mir zwar peinlich, aber ich muß gestehen, daß ich dem AmeriCare-Verwalter im Eifer des Gefechts einen Kinnhaken verpaßt habe«, fuhr Kim fort. »Jedenfalls haben sie Becky nach Hause geschickt, ohne sie irgendwie behandelt zu haben. Medikamente haben sie ihr auch nicht verschrieben. Und gerade hat meine Ex-Frau mich angerufen und mir mitgeteilt, daß Becky Blutungen hat. Wie stark sie sind, weiß ich noch nicht. Tracy war nämlich
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