Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
forderte sie auf aus Flagstaff wegzugehen. Weg von etwas
Schwarzem, etwas unfassbaren und nicht greifbaren. Warnend
zeigte er durch einen Nebel hinter sich und da sah sie die
andere, die dunkle Version. Kalte und schwarze Augen.
»Geh weg Amy, es ist zu gefährlich für dich«, flüsterte
er und sie spürte wie er ihr Gesicht berührte und ihr sanft,
fast wie ein Federhauch über die Wangen strich. Sie konnte seine
unbändige Kraft beinahe körperlich fühlen als er versuchte ihre
Seele zu erreichen.
Er sah sie ganz intensiv an und kommunizierte mit ihr
ohne zu sprechen. Nur auf der rein mentalen Ebene eröffneten
sich ihre Träume und seine Warnungen. Amy war sich absolut
sicher, dass er von indianischer Herkunft sein musste. Kein
anderer Mensch sonst war in der Lage so derart auf das
Unterbewusstsein Einfluss nehmen zu können.
Von diesem Gesicht mit diesen einfühlsamen, eisblauen
Augen hatte Amy zu träumen angefangen als sie vierzehn Jahre alt
war, unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter.
Vorher hatte sie sich auf dieser mentalen Ebene nur mit
Tadita ausgetauscht. Von ihr hatte sie auch die Kunst erlernt
Visionen zu sehen. Sie konnte keine Gedanken lesen. Aber wie
viele Schamanen und Heilige gab es immer einige wenige
Auserwählte die diese Gabe besaßen. Visionen zu empfangen, zu
lesen und auch zu deuten.
Die durch das Auflegen der Hände auf dem Bauchnabel
eines Kranken sein Leid erspürten, es regelrecht fühlen konnten.
Tadita hatte schon sehr bald nach ihrer Geburt erkannt, dass
auch sie diese äußerst seltene Gabe besaß.
Wenn sie sich ansahen, erriet Amy visuell und
instinktiv die Gefühlsregungen ihrer Mutter und umgekehrt. So
konnten sie sich beide, egal wo sie sich gerade befanden oder
welche Entfernung auch zwischen ihnen lag miteinander
verständigen. Manchmal konnte sie auch bestimmte Ereignisse oder
Geschehnisse der Zukunft voraussehen. Allerdings nie im
Zusammenhang mit ihrer Familie oder ihrer eigenen Person. Zu
ihren eigenen, persönlichen Handlungen oder Ereignisse hatte sie
keinen Zugang.
Das wurde von der Geisterwelt zum Schutz der jeweiligen
Person verwehrt. Einige der ganz großen Heiligen, wie die
berühmten Indianerhäuptlinge Crazy Horse oder Sitting Bull
hatten ohne dass sie es je wollten, in einer einzigen und
mächtigen Vision Einblicke in die ganze Zukunft der Welt
erhalten. Viele von ihnen benutzten dazu den Kontakt zur
Geisterwelt um in ihren Visionen, die Kriege vorher zusehen. Amy
wusste davon und auch, dass sie noch ganz am Anfang mit ihrer
Gabe stand.
Ihre Mutter hatte sie in diese Welt eingeführt und sie
gelenkt. Aber sie war viel zu früh gestorben, um ihr alles
beizubringen. Seit ihrem Tod begannen in kurzen, manchmal aber
auch in weit auseinander liegenden Abständen, die Visionen von
diesem mystischen Gesicht. Er flößte ihr keine Furcht ein, im
Gegenteil.
Jedes Mal durchfuhr sie ein warmes, seltsam vertrautes
Gefühl.
Aber jetzt in dieser Nacht, hatte er ihr zum ersten Mal
Angst gemacht. Weil sie das Schwarze, was er ihr durch die
Nebelwand hindurch gezeigt hatte nicht deuten konnte.
Mit einem Ruck wachte Amy schweißgebadet auf. An ein
Einschlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Kurzentschlossen
sprang sie aus dem Bett und beschloss ein Glas heißer Milch zu
trinken.
Vielleicht konnte sie so ihre gereizten Nerven wieder
etwas beruhigen.
3. Kapitel
Einen Monat arbeitete sie nun schon auf der Station und
ganz langsam setzte die Routine ein. Amy begleitete wie an jedem
Morgen, Professor Wilson auf seiner Visite.
Um 15 Uhr war der Rundgang durch die Stationen beendet.
Amy blickte auf die Uhr.
Sie verspürte keinerlei Lust in die Krankenhauskantine
zu gehen, wo es immer sehr laut und hektisch zuging.
Stattdessen machte sie sich auf den Weg zum Ruhezimmer
der Ärzte um sich dort einen Kaffee einzuschenken. Der Raum war
einigermaßen gemütlich eingerichtet, mit einem großen Tisch für
acht Personen, Kühlschrank, einer kleinen Kochzeile mit
Mikrowelle und einer Kaffeemaschine.
Auf genau die hatte Amy es jetzt abgesehen. Sie nahm
sich einen Becher, füllte Milch und Zucker hinein und goss dann
den himmlisch duftenden und frisch aufgebrühten Kaffee ein.
Danach ging sie zu dem braunen Liegesofa, das den Ärzten die
nachts Bereitschaftsdienst hatten, gleichzeitig auch als
Bettersatz diente.
Erleichtert legte sie die Beine hoch und
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