Tränen des Mondes
den folgenden Wochen lernte Niah ihre gesamte Sippe kennen, die Rituale, die heiligen Stätten, die Geschichten und die Bande der Blutsverwandtschaft.
Maya wurde mit offenen Armen empfangen. Die Stammesfrauen nahmen sie in einer einfachen und dennoch ergreifenden Zeremonie in ihrer Mitte auf und schenkten ihr einen Perlmuttanhänger, der dasselbe Muster aufwies wie der ihrer Mutter. Wo immer sie das Schicksal hinführen würde, Maya hatte nun Verbindung zu ihren Ahnen und wußte, wo sie hingehörte.
Die alten Frauen beteten das schöne Kind an, unterhielten es mit Gesängen und führten ihm vor, welch schöne Muster sich aus Gräsern flechten ließen. Für Mutter und Tochter war es eine wunderbare Zeit, in der sie ihre Sprache und ihre Kultur entdeckten. Es gab viel zu lernen.
Einen Tag nach ihrer Ankunft an der Küste verspürte Niah das Bedürfnis, allein zu sein und ihren Gedanken nachzugehen, die ständig um Tyndall und Broome kreisten. Während die anderen Frauen am Strand Muscheln und andere Schalentiere sammelten, kletterte Niah über die Klippen zu einer verlassenen kleinen Bucht. Dort wanderte sie eine Weile herum. Dann ließ sie sich im Sand nieder und blickte aufs Meer hinaus. Irgendwo da draußen mußte die Insel liegen, auf der sie aufgewachsen war und auf der ihre übrige Familie lebte. Sie erinnerte sich, wie ihre Großmutter ihr von jenem Land erzählt hatte, das jenseits des Meeres lag. Es war eine lange Zeit her, daß ihre Mutter ihr die Geschichte ihrer Großmutter erzählt hatte, wie sie über das weite Wasser zu ihrer Familie gefahren und von diesem Besuch mit Geschenken und Geschichten von der großen Willkommensfeier zurückgekehrt war. Und indem sie, Niah, nun durch Zufall zur Heimat ihrer Großmutter zurückgefunden hatte, hatte sie den Kreis geschlossen.
Tief in Gedanken versunken, hörte Niah die Schritte in ihrem Rücken nicht. Eine kräftige Hand schloß sich um ihre Kehle, und die die Arme wurden ihr auf den Rücken gedreht.
»Hab ich dich!« Karl Gunthers höhnisches Gesicht tauchte vor ihr auf. »Was für eine angenehme Überraschung, meine Schöne. Was treibst du denn hier?«
»Ich, ich mit Tyndall da«, stieß Niah in Panik hervor.
»Ach ja? Und wo ist sein Schiff? Ich ankere nämlich hier in der Bucht, und weit und breit ist kein anderes Schiff zu sehen.« Grob riß er sie hoch.
Niah versuchte zu schreien, doch er drückte ihr die Hand auf den Mund. »Aber, aber. Mach keinen Lärm oder ich muß dir ernstlich wehtun. Du kommst mit mir.«
Er zerrte und zog Niah, die sich mit Händen und Füßen wehrte, über den Sand. Sie schlug um sich, biß und kratzte, bis er sie mit einem heftigen Schlag zu Boden streckte. Er warf sie sich wie einen Sack über die Schulter und marschierte davon.
In einer dämmrigen Schiffskabine kam Niah wieder zu sich. Die Geräusche und Bewegungen auf dem Schiff verrieten ihr, daß das Schiff gerade losmachte. Sie wollte aufspringen, aber ihre Füße waren mit einem Tau gefesselt, und ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Das Tuch, das man ihr über den Mund gebunden hatte, erstickte jeden Schrei. In ihrem vergeblichen Bemühen, sich freizukämpfen, stürzte sie zu Boden und blieb hilflos liegen. Eine dunkle Wolke der Angst und der Hoffnungslosigkeit sank auf sie herab.
Sobald das Schiff seine Fahrt aufgenommen hatte, tauchte Gunther in der Kabine auf. Mit hartem Griff zerrte er Niah auf die Füße. »Bist du hingefallen? Ach du meine Güte!« höhnte er. Er stieß sie auf die Koje zurück. »Hör auf zu kämpfen, es ist sinnlos. Wenn du schön brav bist, passiert dir nichts.«
Niah lag da und schoß wütende Blicke auf Gunther ab, während er sich in der Kabine zu schaffen machte. Beim Hinausgehen maß er sie mit einem anzüglichen Grinsen. Niah verzehrte sich nach ihrer Tochter – sie mußte es schaffen, von Bord zu kommen und ihr Kind wiederzusehen.
Stunden verstrichen. Niah fühlte sich ganz elend vor Hunger und Durst. Endlich kam Gunther zurück, riß ihr das Tuch vom Mund, löste ihre Handfessel und reichte ihr Wasser. Sie trank in gierigen Schlucken, während ihre Augen ihn wütend anblitzten.
»Spar dir deinen bösen Blick. Wenn dir dein Leben lieb ist, sei nett zu mir.« Er gab ihr einen Klaps auf die Wange, und Niah mußte an sich halten, ihm nicht den Finger ins Auge zu bohren. Gunther packte ihre linke Hand und band sie an der Fußfessel fest.
Der Koch brachte ihr einen Teller Reis, auf dem ein paar Streifen
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