Tränen des Mondes
wunderschönes Kind, mit dunklen Haaren und Augen wie die Mutter. Olivia wog die Kleine, wickelte sie in eine Decke und legte sie Maria in die Arme. Maria lehnte sich zurück und schloß die Augen, während sie ihr Baby hielt, Tränen quollen unter ihren Wimpern hervor. »Mein Gott, sie ist wie eine kleine Puppe!«
Olivia strich ihr zärtlich über den Kopf und verließ leise das Zimmer. Sie war voller Mitgefühl, weil sie wußte, daß Maria an den Vater ihres Babys dachte und daran, daß er diese Freude nie würde mit ihr teilen können.
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Einundzwanzigstes Kapitel
I m Lauf der nächsten beiden Jahre machte sich Maria im
Shaw House
immer mehr unentbehrlich. Olivia hatte ihr die Grundzüge der Buchhaltung und einige Sekretariatskenntnisse beigebracht. Obwohl Maria eine wertvolle Mitarbeiterin war, wußten Olivia und Gilbert, daß sie irgendwann eine andere Arbeit finden und sich auf ihre eigenen Füße stellen müßte, um für ihre Tochter zu sorgen. Die quirlige, übermütige Zweijährige herrschte unangefochten im
Shaw House
, galt als Teil der Familie und bereitete Gilbert und Olivia viel Freude.
Für Maria waren die Shaws nicht nur Freunde, sondern ihre Ersatzfamilie geworden. Sie hatte ihre eigene Familie nicht mehr besucht, sondern nur eine Nachricht gesandt, daß sie eine Tochter zur Welt gebracht und sich entschieden hatte, sie allein großzuziehen. In einem kurzen, verbitterten Brief hatte ihre Mutter erklärt, wenn sie das Kind weggegeben hätte, hätte eine Chance bestanden, daß sie zu ihnen hätte zurückkehren können.
Als Maria erwähnte, daß der zweite Geburtstag ihrer Tochter bevorstand, fragte Olivia, ob sie nicht gern ein kleines Geburtstagsfest veranstalten würde. Das wäre für das Personal im
Shaw House
und für die anderen Kinder und deren Mütter eine fröhliche Abwechslung.
»Ach, Olivia, das wäre herrlich!« antwortete Maria erfreut. »Sie ist alt genug, daß ihr eine Geburtstagsparty Spaß machen würde, aber ich bin gar nicht auf die Idee gekommen. Oje, wir haben nicht mehr viel Zeit für die Vorbereitungen.«
»Immer noch Zeit genug. Morgen ist Sonntag, da holen wir dich nach der Kirche ab und fahren alle zu uns nach Hause zum Essen, dann können wir die Sache besprechen. Der Geburtstag ist nächsten Samstag, das paßt sehr gut in den Wochenplan.«
Maria lief auf Olivia zu und umarmte sie. »Du bist so lieb, Olivia. Danke! Wir können die ganze Woche lang Dekorationen basteln, dann haben alle etwas zu tun, und die Kinder freuen sich.«
Nach dem Gottesdienst machten Gilbert und Olivia einen Umweg zur katholischen Kirche und warteten, bis Maria mit ihrer Kleinen herauskam. Sie fuhren nach Hause, und während sich Gilbert auf der Veranda ins
Bulletin
vertiefte, setzten sich die Frauen mit Tee und Keksen im Schatten eines Baums in den Garten.
Bald war die Liste der Sachen, die sie für die Party kaufen müßten, komplett, und sie planten das Festmenü: Kuchen, belegte Brote, Kekse, Pudding, Lutscher und Limonade. Beide lachten viel, weil sie sich an lustige Vorfälle bei Festen in ihrer eigenen Kindheit erinnerten.
Als sie zusammenräumten, weil sie wieder ins Haus gehen wollten, bemerkte Olivia mitfühlend und ohne weiter darüber nachzudenken: »Es muß natürlich traurig für dich sein, daß du den Geburtstag deiner Tochter nicht mit deiner Familie feiern kannst.«
Als Maria nichts darauf erwiderte, blickte Olivia auf und sah, daß sie sich alle Mühe gab, nicht zu weinen. »Es tut mir leid«, sagte Olivia leise.
»Ist schon gut. Wirklich. Es ist nur, daß ich gar nicht so recht weiß, welche Menschen ich als meine Familie betrachten soll.«
»Was meinst du damit, um Himmels willen?« fragte Olivia bestürzt, setzte sich wieder hin und lud Maria mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.
Maria holte tief Luft. »Weißt du, ich bin nämlich gar keine Weiße. Ich bin zum Teil eine Aborigine.« Olivia stockte der Atem. Maria fuhr fort: »Sicher, ich wurde von einer weißen Familie adoptiert, die in Albany lebt, aber ich weiß, daß ich irgendwo noch eine andere Familie habe. Ich habe noch ein paar Erinnerungen …« Sie verstummte, als sie wie schon all die vergangenen Jahre versuchte, die Bildsplitter aus jenem fernen Leben zu einem sinnvollen Ganzen zu ordnen.
Olivia beugte sich über den Tisch und nahm Marias Hände. Sie wollte versuchen, ihr in diesem Moment, den sie als entscheidend im Leben der jungen Frau erkannte, emotionale Unterstützung zu
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