Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum
Irreführung meines Wanderführers schlendere ich zum Ausgang des gottverlassenen Dorfes und komme an einem kleinen Restaurant vorbei, welches immerhin ein Pilgermenü und andere einladende Speisen anbietet. Da ich riesigen Hunger habe, die Sonne knallt und ich eine Pause vertragen könnte, beschließe ich, mein knappes Geld hier zu investieren. Zu meinem Erstaunen entpuppt sich das Restaurant als kleine Oase in dem staubtrockenen Dörflein. Ein liebevoll zum Restaurant eingerichtetes Wohnhaus mit wunderschönem, kleinem, geschlossenem Garten empfängt mich. Die Hausherrin, die auch zugleich Kellnerin und Köchin ist, nimmt mir meinen Rucksack ab und lädt mich ein, Platz zu nehmen. Angetan von ihrem wunderschönen Garten frage ich, ob ich nicht draußen essen könne, was sie bejaht und mir umgehend eine provisorische Sitz- und Essmöglichkeit inmitten ihres Paradieses errichtet. Ich bin der einzige Gast in ihrem Restaurant und bekomme ihre volle Aufmerksamkeit. Meine Entscheidung fällt auf ein Menü, bestehend aus einer Suppe, Salat, Fleisch mit Gemüse und Kartoffeln, Wasser oder Wein und einem Nachtisch meiner Wahl plus Kaffe und das alles für 10,- €. Klingt fair und ich bestelle. Das Essen entspricht dem Ambiente, ist absolut köstlich und reichlich. Ich trinke noch in Ruhe meinen Kaffee und mache ein kleines Schläfchen im Schatten bevor ich wieder aufbreche.
Nach dieser traumhaften Erholung mache ich mich wieder auf den Weg, ohne zu wissen, wohin ich heute noch laufen werde. Den nächsten Abschnitt laufe ich schon wieder mit einem Deutschen zusammen, sein Name ist entweder Heinz oder Hans, habe in der Sekunde nicht richtig zugehört und will nun Minuten später nicht abermals fragen. Der Kollege ist mir gestern schon mal begegnet. Als er mich sieht scheint er das gleiche zu denken. Mit den Worten „normaler Weise treffe ich niemanden zweimal“ eröffnet er das Gespräch. Im Laufe unserer Unterhaltung erzählt er mir, dass er in Deutschland losgelaufen ist und bereits seine 2400 km hinter sich hat. Täglich läuft er mittlerweile zwischen 40 km und 60km! Nicht schlecht, das ist ein gutes Stück, aber ich habe eigentlich nicht vor, meinen gestrigen Trip zu wiederholen und da sein Tempo auch ganz schön straff ist, lasse ich ihn nach einer Weile davon ziehen. Mittlerweile ist es 14:30 Uhr und die Sonne wird nicht schwächer. Bis auf ein paar kleine stillstehende Wölkchen am Himmel tut sich nichts in der Luft. Ich beschließe für mich, bis spätestens 17 Uhr einen Platz zum Nächtigen gefunden zu haben. An einer Mauer, die ich wenig später passiere, lese ich dann folgenden Text auf Deutsch und fühle mich direkt angesprochen:
Staub, Schlamm, Sonne und Regen,
das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern und mehr als tausend Jahre.
Wer ruft dich Pilger, welch geheime Macht lockt dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel, noch sind es die großen
Kathedralen, weder die Tapferkeit Navarras, noch der Riojawein,
nicht die Meeresfrüchte Galiciens und auch nicht die Felder
Kastiliens.
Pilger, wer ruft dich, welch geheime Macht lockt dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs, noch sind es die ländlichen
Traditionen, weder Kultur und Geschichte, noch der Hahn Santa
Domingos, nicht der Palast von Gaudi und auch nicht das
Schloss Ponferradas.
All dies sehe ich im Vorbeigehen und dies zu sehen ist Genuss,
doch die Stimme, die mich ruft, fühle ich viel tiefer in mir. Die
Kraft, die mich voran treibt, die Macht, die mich anlockt, doch
ich kann sie mir nicht erklären, dies kann alleine nur er dort
oben.
Wie versteinert starre ich auf die Wand vor mir. Wieso steht das da in Deutsch? Und wieso fühle ich mich direkt angesprochen? Ich bleibe einige Minuten vor der Mauer stehen und lese mir den Text nochmals durch. Danach laufe ich gedankenversunken in Trance bis nach Nájera durch, ohne es zu merken. Als ich dort ankomme, muss ich mich erst mal orientieren, um herauszufinden, wo ich bin. Ich laufe weiter durch das Dorf und passiere einen Schuster. Welch günstiger Zufall, endlich kann ich meine Schuhsohlen in meine Schuh kleben. Der Schuster begutachtet meine Sohlen skeptisch und holt dann unter der Ladentheke seinen Schatz hervor. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film. Ein kleines Schuhgeschäft, links von mir die verschiedensten Schuhsolen im Regal aufgereiht und der Schuster holt unter der Theke ein weißes Paar gefederte, elastische, polsterweiche Sohlen hervor, als hätte er
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