Trauerspiel
keine Angst davor, dass du in Gefahr bist? Dass diese Chaosdynamik dich auch ergreift? Ich denke da an unser Jago-Gespräch. Angenommen, du stehst auch auf der Liste von so einem Jago. Schließlich ist der Mord bei dir um die Ecke geschehen, es hat einen bösen, intriganten Brief über dich gegeben, und jetzt hat irgendwer einem Journalisten etwas gesteckt und du kannst froh sein, wenn dieser Herr Berger die Sache geradebiegen kann. Hast du schon mal überlegt, dass da eine Intrige gegen dich laufen könnte?»
Susanne blieb überrascht stehen. «Meinst du wirklich?»
Urs nickte. «Meine ich wirklich. Und, wie gesagt, ich habe keine Lust, dich ständig aus Lebensgefahr zu retten. Nicht, weil ich das nicht gerne täte, nur, stell dir vor, mein Zug verspätet sich und ich komme nicht rechtzeitig! Das passiert, ich weiß es, ich habe schließlich die Bahncard 100 und bin mehr im Zug als an meinem Schreibtisch. Ruck zuck hat sich wer auf die Gleise geworfen und der Zug fährt nicht weiter. Oder eine Signalstörung. Oder spielende Kinder auf dem Gleis. Alles kann passieren! Gut, Staus auf der Autobahn sind noch häufiger, aber trotzdem – du kannst dich in Sachen Lebensgefahr nicht darauf verlassen, dass ich pünktlich vor deiner Wohnungstür stehe. Ehrlich, mir wäre es lieber, du würdest etwas ruhiger leben.»
Susanne lachte. «Ruhiger leben, und das aus deinem Mund! Du selbst wirst doch erst ruhig sein, wenn du unter einem solchen Grabstein liegst. Und selbst dann wirst du bestimmt noch mit deiner hektischen Art die Maden nervös machen. Urs, Urs, ich kann doch nicht plötzlich zur Lethargie konvertieren. Außerdem habe ich mir die Sache mit Julia und die mit Sven wirklich nicht ausgesucht.» Susanne schwieg einen Moment. «Angst haben… in der Tat, das ist mir eher fremd. Vielleicht auch, weil ich Pfarrerin bin.»
Urs lachte. «Du meinst, du bist stets unter Gottes Schirm und Schild und kannst deshalb bei Rot über die Straße laufen?»
Susanne lachte mit. «Natürlich, das auch, aber im Ernst: Wir Pfarrer sind wohl die einzige Berufsgruppe, die ständig an offenen Gräbern steht und dann den Friedhof lebendig wieder verlässt. Mit der Zeit kommt man sich deshalb ein bisschen unsterblich vor – ein Berufsrisiko sozusagen. Berufsbedingter Unsterblichkeitswahn. Irgendwie kann ich mir, trotz der Sache mit Jens damals, nicht vorstellen, dass ich sterben könnte. Und deshalb habe ich auch nicht richtig Angst.»
* * *
Abends saß Tanja heulend bei Susanne auf dem Sofa.
«Du spinnst, meine Liebe», meinte Susanne, «du spinnst, wenn ich dir das so offen sagen darf. Du spinnst komplett. Wie kannst du diesen wunderbaren Menschen einfach so nach Kolumbien entschwinden lassen?»
Tanja schluchzte über ihrem Kamillentee. Sie hatte wahnsinnige Bauchschmerzen, und sie brauchte wirklich keinen Arzt, um zu diagnostizieren, dass die Ursache dieser Beschwerden psychosomatischer Natur war. «Es ging nicht anders. Wenn er geblieben wäre, dann hätte ich mich von ihm trennen müssen, versteh doch. Das hat er genau gespürt. Ich weiß nicht, was ich will. Für eine Entscheidung brauche ich Abstand.» Sie weinte.
«Versteh einer die Frauen», meinte Susanne und kochte eine neue Kanne Kamillentee.
* * *
Arne trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. So ganz zufrieden war er nicht mit dem Gespräch, das er mit Frau Sommer geführt hatte. Das theatralische Ehepaar war ihm etwas zu glatt davongekommen. Schließlich – Thorsten Braun hatte Julia gekannt, er hatte versucht, sich ihr zu nähern und war abgeblitzt – das gab immerhin ein passables Motiv ab. Und seine Ehefrau war alles andere als begeistert von den amourösen Eskapaden ihres Gatten, in Julia konnte sie eine echte Konkurrenz wittern: ein junges, begabtes Mädchen, vielleicht hatte sie sogar mitbekommen, dass Julia nicht unvermögend war. Thorsten Braun verdiente gut, aber wer garantierte ihm schon Regieaufträge für die nächsten zwanzig Jahre? Mit einer wohlhabenden jungen Frau an seiner Seite wäre seine künstlerische Zukunft kein Problem. Wenn Ulrike Sommer diese Gefahr geahnt hatte, dann wäre es denkbar, dass sie Julia ermordet hatte.
Arne wusste nicht genau, was er sich davon erwartete, das Haus von Braun und Sommer zu beobachten. Es war ein Gefühl gewesen, eine Idee, wahrscheinlich ein blöder Einfall, hierherzukommen. Aber er hatte an diesem Abend nichts zu tun, warum sollte er also nicht ein wenig das Domizil des Regisseurs beschatten. Doch jetzt stand
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