Trauerspiel
offen. Morgen wird darüber nichts gesendet, soweit ist es längst nicht. Es tut mir leid, dass ich Sie mitten in den Vorbereitungen für Julias Beerdigung mit diesen unangenehmen Dingen belästige.»
Susanne lächelte matt. «Sie haben es sich ja nicht ausgesucht. Und mir ist es lieber, ich bin vorgewarnt und vorbereitet.»
Berger schwieg einen Augenblick. «Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?»
Susanne überlegte. «Kommt drauf an. Was wollen Sie denn wissen?»
Berger zögerte. «Wissen Sie, Sie kommen mir vor wie ein ganz sensibler Mensch. Und ich habe mich gefragt, ob Sie manchmal denken, dass Sie schuld sind am Tod von Julia, weil das Mädchen mit Ihnen reden wollte und vielleicht deshalb ermordet wurde.»
Susanne überlegte. «Das ist wirklich eine sehr persönliche Frage. In der Tat, ich habe mich manchmal gefragt, ob ich verantwortlich bin. Jetzt weiß ich: Ich bin nicht schuld am Tod von Julia. Ihr Leben hat sich an bestimmten Punkten mit meinem verknüpft, ihr Tod ist in tragischer Nähe zu meiner Kirche geschehen, aber deshalb bin ich noch lange nicht schuld an ihrem Tod. Ihr Mörder trägt die Verantwortung.» Susanne schwieg.
«Danke für Ihre offenen Worte», sagte nach einer Pause Michael Berger. «Ich versichere Ihnen, dass ich alles, was in meiner Macht steht, daran setzen werde, diese unselige Malta-Reportage zu verhindern. Ich sage Ihnen ebenso offen wie Sie mir: Ich halte es für absolut undenkbar, dass Sie etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun haben.»
Susanne atmete tief durch. «Danke für Ihr Vertrauen, das tut mir gut. Bitte informieren Sie mich, wenn Sie neue Informationen haben.»
«Das werde ich bestimmt tun», versicherte ihr Berger. «Jetzt aber konzentrieren Sie sich bitte auf die wirklich wichtigen Dinge, zum Beispiel auf Julias Beerdigung. Da soll Sie nichts ablenken dürfen.»
Susanne seufzte. «Leichter gesagt als getan. Aber ich werde mir Mühe geben.»
Als Berger aufgelegt hatte, überlegte sie einen Moment und wählte dann eine Handynummer.
«Hallo Urs, wo bist du gerade? Im Zug auf dem Weg zurück nach Münster? Bist du schon an Mainz vorbei? Nein? Tu mir doch einen Gefallen und mach in Mainz eine Pause, ich glaube, es würde mir einfach gut tun, mit dir ein paar Schritte zu gehen und zu reden. Klappt das? Wann bist du in Mainz? So bald schon? Prima, ich hole dich am Gleis ab. Wie viel Zeit hast du? Zwei Stunden? Toll, du bist ganz lieb!»
* * *
Eine Stunde später schlenderten Susanne und Urs über den Mainzer Hauptfriedhof, das heißt, Susanne schlenderte, Urs hüpfte.
«Das wird ja immer schlimmer», meinte Urs. «Erst dieser Mord und dann noch diese alte Geschichte aus Malta. Man könnte fast meinen, da will dich einer reinreiten.»
Susanne schüttelte den Kopf. «Wer sollte das denn sein? Nein, ich habe einfach Pech.»
«Gar keine schlechte Frage, die dieser Berger da gestellt hat», überlegte Urs. «Wo ich gerade von diesem Vortrag über Wissenschaftstheorie komme – der Anruf bei dir könnte der Schmetterlingsflügelschlag gewesen sein, der einen Wirbelsturm entfacht hat, durch dessen Gewalt Julia sterben musste und die Sache aus Malta wieder ans Tageslicht kam. Das könnte man so sagen. Chaostheorie also. In einem rückgekoppelten System, wo viele Beziehungen wechselseitig ineinander verflochten sind, genügen ganz kleine Abweichungen und alles läuft in eine völlig falsche Richtung.»
Susanne seufzte. «So kommt mir das auch vor, nämlich völlig falsch!»
Urs kicherte. «Na ja, es hat ja auch keiner gesagt, dass die Chaostheorie angenehm ist. Aber eigentlich ist falsch der falsche Ausdruck, besser müsste es heißen: Eine kleine Abweichung kann so wichtig werden, dass die Dynamik unvorhersehbar wird, obwohl sie logisch ist.»
Schweigend gingen die beiden zwischen den alten Mausoleen entlang. Trauernde Engel reichten Kränze, Frauen verhüllten das Haupt, abgebrochene Säulen und steinerne Urnen säumten ihren Weg.
«Hast du eigentlich keine Angst?», erkundigte sich Urs.
«Wieso?», fragte Susanne, «du meinst, wenn diese Malta-Geschichte aufgebauscht wird? Im ersten Moment fand ich das auch unangenehm, inzwischen bin ich aber viel ruhiger. Im schlimmsten Fall ziehe ich in eine andere Stadt. Aber bis es soweit kommt, fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter.»
Urs wiegte bedenklich seinen Kopf, während er an zwei jungendlichen Engeln mit Palmzweigen in den Händen vorbeitänzelte. «Das meine ich nicht. Ich meine eher: Hast du
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