Traumschlange
festgestellt hatte, als sie von ihren Probejahren zurückkehrten. Und außerdem begriff sie, warum einige gar nicht wiederkamen. Nicht alle waren ums Leben gekommen, vielleicht nicht einmal die Mehrzahl. Unfälle und Verrückte waren die einzigen Gefahren, die für einen Heiler keinen Respekt aufbrachten. Nein, manche hatten erkannt, daß das Dasein eines Heilers ihnen nicht behagte und einfach irgendwo irgendein anderes Leben begonnen. Schlange dagegen hatte nun eingesehen, daß sie immer eine Heilerin sein mußte, ganz gleichgültig, wie, ob mit allen ihren Schlangen oder überhaupt keinen. Die ersten schlimmen Tage des Selbstmitleids, ausgelöst durch den Verlust von Gras, waren ausgestanden; der furchtbare Kummer, den ihr Jesses Tod bereitet hatte, war überwunden. Schlange würde Jesses Tod niemals vergessen, aber sie konnte sich wegen seiner Umstände nicht für immer grämen. Statt dessen beabsichtigte sie, Jesses letzte Wünsche zu erfüllen.
Sie setzte sich auf und rieb sich am ganzen Körper mit Sand ab. Das Wasser floß an ihr vorüber und sickerte durch den Abfluß in den Sand. Schlanges Hand verweilte auf ihrem Leib. Die Annehmlichkeit frischen Quellwassers, von Entspannung und Gelöstheit, des Fühlens ihrer eigenen Hand erinnerten sie mit nahezu körperlichem Erschrecken daran, wie lange es her war, daß jemand sie zuletzt berührte, daß sie ihrem Verlangen nachgegeben hatte. Sie lehnte sich im Becken zurück und erging sich in Phantasien über Arevin.
Barfüßig und mit entblößten Brüsten, das Gewand über die Schulter geworfen, kletterte Schlange vom Staubecken herab. Auf halber Strecke zu Grums Lager blieb sie für einen Moment stehen und lauschte auf ein Geräusch, daß sie am Rande ihrer Wahrnehmung gehört zu haben glaubte. Es wiederholte sich: das weiche Gleiten von Schuppen über Stein, das Geräusch einer Schlange, die sich dahinbewegte. Langsam drehte sich Schlange in die Richtung, woher das Geräusch kam. Zunächst sah sie nichts, doch dann kroch aus einem Felsspalt eine Sandnatter. Sie hob ihren grotesken Kopf und züngelte.
Schlange erinnerte sich mit einer Art von schwachem seelischen Zusammenducken an den Biß der anderen Sandnatter, doch sie wartete geduldig, bis das Geschöpf sich noch weiter von seinem Versteck entfernt hatte. Es besaß nichts von der ätherischen Schönheit Dunsts, keine schönen Rückenmuster wie Sand. Es war einfach nur häßlich, der Kopf besaß klumpige Auswüchse, die Schuppen waren schlammig-dunkelbraun. Aber es handelte sich um eine den Heilern unbekannte Spezies, und sie war – was noch mehr zählte – eine Bedrohung für Arevins Stamm. Sie hätte ein Exemplar bei dessen Lager fangen sollen, aber sie hatte nicht daran gedacht. Seither reute sie ihr Versäumnis. Es war ihr unmöglich gewesen, seinen Stamm zu impfen, weil sie noch gar nicht erfahren hatte, welche Krankheiten unter dessen Mitgliedern verbreitet waren, und sie deshalb für Sand nicht den geeigneten Katalysator zubereiten konnte. Wenn sie zurückkehrte – falls es jemals dazu kam –‚ wollte sie das nachholen. Aber wenn es ihr gelang, diese Natter zu fangen, die fast lautlos auf sie zuglitt, konnte sie überdies als Geschenk ein wirksames Heilmittel gegen ihr Gift herstellen.
Der leise Wind wehte von der Natter zu ihr herüber; das Tier konnte sie nicht wittern. Falls es einen Wärmesinn besaß, lenkten die warmen schwarzen Felsen es ab. Es bemerkte Schlange nicht. Sein Sehvermögen, so nahm Schlange an, war nicht besser als bei allen anderen Schlangen. Die Natter kroch dicht an ihr vorbei, fast über ihre nackten Füße. Schlange beugte sich langsam vor, streckte eine Hand nach ihrem Kopf aus, die andere vor sie hin. Als sie die Regung der anderen Hand wahrnahm, bäumte sie sich auf, um zuzubeißen, und damit geriet sie in Schlanges Griff. Schlange hielt sie unerbittlich fest und bot ihr keine Gelegenheit zum Biß. Sie wand sich heftig um Schlanges Unterarm, zischte und wand sich, entblößte ihre erstaunlich langen Giftzähne. Schlange erschauderte.
»Mein Fleisch zu kosten, das wäre ein Vergnügen, was, Kreatur?«
Unbeholfen faltete sie mit einer Hand ihr Kopftuch auseinander und setzte die Schlange in diesen behelfsmäßigen Beutel, damit sie niemanden erschreckte, wenn sie Grums Lager betrat. Sie setzte ihren Weg dorthin auf dem ausgetretenen steinernen Pfad fort.
Grum hatte für sie ein Zelt vorbereitet. Es stand im Schatten aufgeschlagen, und die Seitenbahnen waren
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