Traumschlange
Grum einsprach, betupfte sie den Oberarm der Alten mit alkoholischer Jodtinktur. Im Medizinfach ihrer Schlangenschachtel hatte sich nur noch ein Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel befunden, aber es würde für heute ausreichen, und in Berghausen konnte sie in der Apotheke ihre Vorräte erneuern. Schlange spritzte ein Tröpfchen des Serums auf Grums Oberarm, setzte den Inokulator an und preßte die Spitzen in die Haut. Grum zuckte, als sie die Einstiche spürte, aber ihre Miene blieb unverändert.
Schlange tauchte den Inokulator in die Jodtinktur und betupfte Grums Arm noch einmal.
»So.«
Verblüfft schaute Grum sie an, dann auf ihre Schulter. Die Stiche waren rot, aber sie bluteten nicht.
»Sonst nichts?«
»Das ist alles.«
Grum lächelte und wandte sich nach Ao um. »Da siehst du‘s, alte Beutelratte, es ist völlig harmlos.«
»Wir warten‘s ab«, sagte Ao.
Der Morgen verlief reibungslos. Ein paar Kinder weinten, was aber mehr auf den Alkoholgeruch als auf die oberflächlichen Einstiche des Inokulators zurückzuführen war. Pauli bot Hilfe an und unterhielt die Kleinen mit Scherzen und Geschichten, während Schlange ihre Arbeit tat. Die meisten Kinder – und nicht wenige Erwachsene – blieben noch, nachdem Schlange sie geimpft hatte, um Pauli zuzuhören. Anscheinend überzeugten sich Ao und die übrigen Sammler unterdessen von der Ungefährlichkeit des Impfstoffes, denn als sie an die Reihe kamen, war noch niemand tot umgefallen. Stoisch unterwarfen sie sich den Nadelstichen und dem Alkoholgestank.
»Und keine Kieferstarre?« erkundigte sich nochmals Ao. »Dies wird dich für ungefähr zehn Jahre davor bewahren. Danach ist es am besten, die Impfung zu wiederholen.«
Schlange drückte den Inokulator gegen Aos Arm und verrieb Jodtinktur auf seiner Haut. Nach einem Moment düsteren Schweigens lächelte Ao zum ersten Mal: ein breites, erfreutes Lächeln.
»Kieferstarre fürchten wir. Eine schlimme Krankheit. Langwierig. Schmerzhaft.«
»Ja«, sagte Schlange. »Und weißt du, was sie verursacht?«
Ao legte einen Zeigefinger in die Handfläche der anderen Hand und vollführte eine schnittartige Bewegung. »Wir sind vorsichtig, aber...«
Schlange nickte. Sie begriff, daß Sammler sich aufgrund ihrer Tätigkeit häufiger kleine Wunden zuzogen als andere Menschen. Doch da Ao offenbar den Zusammenhang zwischen Verletzungen und der gefürchteten Krankheit kannte, durfte sie sich diesbezügliche Erklärungen sparen; andernfalls hätte sie nur den Eindruck erweckt, als wolle sie diese Leute gängeln.
»Wir haben hier noch nie Heiler gehabt. Nicht auf dieser Seite der Wüste. Aber Leute von der anderen Seite erzählen oft davon.«
»Na, das liegt vielleicht daran, daß wir Bergbewohner sind«, sagte Schlange. »Wir wissen wenig über die Wüste, also wagen sich wenige von uns hinein.«
Das war nur zum Teil wahr, aber die einfachste Begründung.
»Nie einen Heiler vor dir. Du bist der erste.«
»Kann sein.«
»Warum?«
»Ich war neugierig. Ich dachte, ich könnte mich nützlich machen.«
»Du kannst anderen Heilern sagen, daß sie ruhig auch kommen dürfen. Keine Gefahr für sie.«
Plötzlich verfinsterte sich der Ausdruck von Aos durch die Witterung gezeichneter Miene.
»Verrückte, ja, aber nicht mehr als in den Bergen. Verrückte gibt es überall.«
»Ich weiß.«
»Irgendwann finden wir ihn.«
»Würdest du etwas für mich tun, Ao?«
»Alles.«
»Der Verrückte stahl mir nichts außer meinen Karten und meinem Berichtsbuch. Ich nehme an, die Karten behält er, falls er richtig genug im Kopf ist, um sie zu verwenden, aber das Berichtsbuch hat nur für mich einen Wert. Vielleicht wirft er es fort, und deine Leute finden es.«
»Dann verwahren wir‘s für dich.«
»Genau das hätte ich gerne.« Sie beschrieb das Berichtsbuch.
»Bevor ich weiterreise, gebe ich dir einen Brief an die Heilerniederlassung in den Nordbergen. Wenn ein Bote dort mit dem Berichtsbuch und diesem Schreiben erscheint, kann er sicher sein, daß er eine Belohnung erhält.«
»Wir halten die Augen offen. Wir finden vieles, aber selten Bücher.«
»Wahrscheinlich wird es nie wieder auftauchen, das ist mir klar. Oder der Verrückte glaubte, es sei wertvoll, und als er feststellte, daß es das nicht war, hat er es verbrannt.«
Beim Gedanken daran, daß völlig tadelloses Papier zu einem Nichts eingeäschert worden sein könnte, zuckte Ao merklich zusammen.
»Wir sperren die Augen auf.«
»Danke.«
Ao schloß sich
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