Traumzeit
warf Louisa einen kurzen Blick in den bodenlangen Spiegel. Am liebsten hätte sie das Bild, das sie dort zu sehen glaubte, mit Steinen beworfen. Hier saß sie, eine typische dicke Schafzüchtersfrau, die zu nichts anderem taugte, als das Geld ihres Mannes auszugeben und Kinder zu gebären. Aber sofort überkamen Louisa Schuldgefühle, und sie erschrak über diese Gedanken.
»Pauline, ich habe gehört«, sagte sie und drehte ihrem Spiegelbild bewußt den Rücken zu, »daß Wilma Todd den ganzen Winter über trainiert. An deiner Stelle wäre ich zumindest ein wenig nervös.«
»An dem Tag, an dem mich jemand wie Wilma Todd einschüchtert, Louisa, kannst du mich begraben. Beim Bogenschießen hat sie gegen mich keine Chance. Ich halte den Titel ungeschlagen seit vier Jahren, und ich habe die Absicht, ihn auch im fünften Jahr zu verteidigen.«
Pauline freute sich insgeheim darüber, daß Wilma beim Wettschießen im Sommer gegen sie antreten wollte. Sie war eine ausgezeichnete Schützin, und Pauline wußte bereits, daß sie mit ganzer Hingabe trainierte, um die Meisterschaft zu gewinnen. Es würde demnach ein herrlich aufregender Wettkampf werden. Ein Wettschießen war langweilig, wenn es keine ebenbürtige Konkurrentin gab. Je besser die Gegnerin, desto größeres Vergnügen bereitete Pauline der Wettkampf.
»Ich weiß nicht, wie du das machst, Pauline«, sagte Louisa, »ich werde bereits nervös, wenn ich eine meiner Torten zum Backwettbewerb bei der Landwirtschaftsausstellung abgebe. Und wenn ich jemals den ersten Preis gewinnen sollte, müßte ich mich vor Aufregung bestimmt eine Woche lang mit Migräne ins Bett legen!«
»Wettkämpfe geben einem erst das Gefühl, zu leben, Louisa«, erwiderte Pauline und begutachtete sich im Spiegel. »Und es kommt darauf an, zu siegen. Der Sieg ist der größte Reiz. Jeder Dummkopf kann verlieren, jeder Dummkopf kann einen Wettkampf ausschlagen. Ein Sieg ist die Bestätigung des eigenen Werts.«
Ein Wettkampf hatte für Pauline manchmal etwas Erotisches, ganz gleich, ob es wie beim Bogenschießen um das Kräftemessen mit anderen Menschen ging oder mit der Natur, wie Hugh Westbrook das auf seiner Farm tat. Hughs Kampfgeist und Entschlossenheit hatten Paulines Interesse für ihn geweckt. Er hatte sich von den zahllosen Rückschlägen nicht entmutigen lassen und Merinda trotz aller Widerstände zu einer angesehenen Farm gemacht. Sie fand seine Entschlossenheit, Erfolg zu haben, faszinierend. Es war allgemein bekannt, daß Pauline nur einen Sieger lieben konnte. Sie sonnte sich in der Vorstellung, daß sie sich am Sieg berauschte wie andere am Wein.
Dieses Gefühl bereiten mir auch die kleinen Siege, dachte Pauline, während sie den Hut aufsetzte und zurechtrückte. So ein Sieg stand ihr bevor, wenn sie Hugh dazu brachte, seine Ansicht über das Kindermädchen zu ändern, das er aus Melbourne mitgebracht hatte. Pauline hatte ihm bereits vorgeschlagen, den Jungen nach Lismore zu bringen, aber Hugh wollte die einmal getroffene Entscheidung nicht rückgängig machen. Pauline wußte, wie eigensinnig er sein konnte, aber sie wußte auch, daß sie letzten Endes ihren Willen durchsetzen würde. So oder so, Miss Drury würde wieder gehen müssen.
Als Louisa plötzlich aufseufzte, sah Pauline sie prüfend an und sagte: »Ich habe das deutliche Gefühl, Louisa, du bist heute morgen nicht gekommen, um über Wilma Todd zu reden. Was hast du auf dem Herzen?«
»Ich bin zu einer ungünstigen Zeit gekommen, Pauline. Du möchtest ausgehen.«
Pauline entließ ihre Zofe und setzte sich neben ihre Freundin auf das Bett: »Sag mir, Louisa, worum es geht. Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Du kannst mir nicht helfen«, stieß Louisa mit Tränen in den Augen hervor. »Ich … ich glaube, ich bin wieder schwanger.«
»Aber liebe Louisa! Deshalb muß man doch nicht weinen!«
»Wirklich nicht? Ich habe gerade erst Persephone bekommen, und jetzt geht es schon wieder los! Du weißt ja nicht, wie das ist, Pauline. Du weißt nichts von ehelichen Pflichten.«
Eheliche Pflichten, dachte Pauline, genau danach sehne ich mich doch! Wieder kehrten ihre Gedanken zu Hugh zurück und zu seinem unerwarteten Besuch vor drei Nächten nach der Rückkehr aus Melbourne. Sie hatte ihn ins Wohnzimmer geführt und die Tür kaum geschlossen, als er sie plötzlich in die Arme nahm, sie heftig und leidenschaftlich küßte. Bei diesem unerwarteten Beweis seiner Leidenschaft und der Sinnlichkeit des Kusses vergaß auch
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