Traveblut
Sie doch nicht so ungeduldig.« Birnbaum stand auf, trat ans Fenster und kehrte Andresen den Rücken zu. »Das Labor hat eine ganze Reihe von Untersuchungen vorgenommen. Unter anderem kennen wir jetzt die exakten Todeszeitpunkte beider Frauen.« Er nahm seine Brille ab und zupfte an seinen Augenbrauen.
»Und?«, fragte Andresen.
»Etwa einundzwanzig Uhr. Trotz Fehlertoleranz sind wir uns relativ sicher, dass beide Morde tatsächlich zur gleichen Zeit verübt wurden.«
Andresen nickte.
»Was noch wichtiger für Sie sein dürfte, ist die Tatsache, dass beide Morde von ein und derselben Person begangen wurden«, fuhr Birnbaum fort. »Aber im Prinzip habe ich Ihnen das ja schon beim letzten Mal gesagt.«
»Moment«, hakte Andresen ein. Was Birnbaum als selbstverständlich abtat, war der Beweis, dass sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen hatten. Brigitte Jochimsen und Katharina Kock waren demselben Täter zum Opfer gefallen. »Wir haben es also tatsächlich mit einem zweifachen Mörder zu tun. Hat das Labor die DNA-Spuren schon mit der Datenbank abgeglichen? Vielleicht ist irgendjemand dabei –«
»Andresen«, unterbrach Birnbaum ihn und lächelte ihn an. »Das gehört zu den Routinemaßnahmen. Leider in diesem Fall mit enttäuschendem Ergebnis. Die gefundenen Spuren konnten keinem genetischen Fingerabdruck aus der Datenbank zugeordnet werden.« Er zog die Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen und schien auf eine Reaktion von Andresen zu warten. Doch der war mit seinen Gedanken längst woanders.
»In Ordnung«, sagte er schließlich und stand auf. »Vielen Dank, dass Sie sich sofort gemeldet haben.« Er gab Birnbaum die Hand und verabschiedete sich. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Haben Sie eigentlich auch mit dem Brand in der Blücher-Schule zu tun?«, fragte er.
»Mir wäre neu, dass bei dem Brand jemand ums Leben gekommen ist.«
»Es wurden Spuren sichergestellt. Die Kollegen aus Kiel sollten einen Abgleich durchführen.«
»Bislang ist mir nichts zu Ohren gekommen.«
»Melden Sie sich bitte, falls Sie etwas hören.«
»Glauben Sie etwa, dass die beiden Vorfälle etwas …?«
»Wir glauben gar nichts«, sagte Andresen. Mit einem kurzen Nicken verließ er das Rechtsmedizinische Institut.
Er stieg in sein Auto und drehte das Radio voll auf, blieb einige Minuten sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe auf das Gebäude der Rechtsmedizin. Trotz der Erkenntnis, dass sie es mit ein und demselben Täter zu tun hatten, war er enttäuscht von den Ergebnissen der Laborbefunde. Aber was hatte er erwartet? Dass sie den Mörder anhand der Datenbank identifizieren konnten? So etwas war selten der Fall.
Katharina Kocks Wohnung lag im Stadtteil St. Lorenz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Andresen hatte sich von Kregel die Wohnungsschlüssel besorgt. Im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses standen mehrere Kinderwagen und ein Rollator. Er nahm die Treppe hoch in den dritten Stock und öffnete die versiegelte Wohnungstür.
Vorsichtig betrat er den Flur und sah sich um. Drei Räume zweigten ab. Zuerst warf er einen Blick in die kleine Küche. Sie sah chaotisch aus. Überall stand dreckiges Geschirr herum. Andresen zog in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das weiterhalf, einige Schubladen und Schranktüren auf. Er fand jedoch nichts Auffälliges.
Er ging ans Fenster und blickte in den Hinterhof. Was suchte er eigentlich? Eine Verbindung zu Brigitte Jochimsen, den Beweis, dass Rehm ihr Mörder war, Hinweise auf ihre Beziehung zu Eva Matthis? Vielleicht ein Brief oder ein Foto.
Im ersten Moment nahm er das Geräusch kaum wahr. Gedankenverloren stand er vor dem Fenster. Doch plötzlich gab es einen dumpfen Schlag, der ihn zusammenzucken ließ. Sofort war er sich sicher, dass das Geräusch aus der Wohnung kam. Er griff in die Innentasche und tastete instinktiv nach seiner Waffe. Dann schlich er langsam über den Flur in Richtung Wohnzimmer.
Weshalb hatten sie ihn nicht entdeckt? Vor dem Haus stand seit vierundzwanzig Stunden eine Zivilstreife. Sie waren darauf eingestellt, dass Rehm hier auftauchen würde. Und trotzdem war es ihm offenbar gelungen, sich Zutritt zur Wohnung zu verschaffen.
Andresen lauschte. Es hörte sich an, als würde jemand über Glasscherben laufen. Dann Stille. Er ging auf Zehenspitzen weiter und wagte einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer. Eine wuchtige Vitrine auf der linken Seite des Raumes verhinderte, dass er das gesamte Zimmer einsehen konnte.
Kalter Wind zog plötzlich
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