Traveblut
angesetzt. Er las einige E-Mails, dann bewegte er sich schwerfällig in Richtung Sitzungszimmer.
Er stellte sich ans Fenster und wartete, bis alle Kollegen eingetroffen waren, ehe er sich ihnen zuwandte. Noch während er sich umdrehte, hob er eine Hand, um deutlich zu machen, dass sie sich mit Kommentaren zurückhalten sollten. In wenigen Sätzen erklärte er, was gestern Abend passiert war. Von dem Gespräch auf dem Boot, seiner anschließenden Flucht, dem kleinen Missgeschick und seinen vorläufigen Schlussfolgerungen. Keiner sagte etwas, nachdem er geendet hatte. Sibius fand schließlich als Erster Worte.
»Danke, Birger. Auch wenn es schmerzvoll für dich war, kann uns deine Beobachtung sehr helfen.«
Andresen schnitt eine Grimasse und setzte sich. »Da wir ja überhaupt nicht wissen, was dahintersteckt, müssen wir natürlich vorsichtig sein. Vielleicht geht es auch um etwas ganz anderes. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass mit Hanka Weichert etwas nicht stimmt. Ich bin mir sicher, dass sie mir nicht alles gesagt hat, was sie weiß.«
Kregel räusperte sich leise und setzte sich zurecht. »Gab es da nicht vor ein paar Monaten so eine Geschichte mit einem abgesoffenen Schiff im Hafen? Wo man davon ausgegangen war, dass es sich um Sabotage handelte? Mir war so, als wäre das im Fischereihafen gewesen.«
Andresen nickte. Auch er konnte sich jetzt wieder daran erinnern. Der alte Kahn war nur mit Mühe vor dem Untergang gerettet worden, nachdem das Wasser unaufhaltsam durch ein gut zwanzig Zentimeter großes Leck im Bugbereich eingetreten war.
»Okay, das Rätselraten macht ja keinen Sinn«, sagte Sibius. »Wir müssen den Dingen gezielt auf den Grund gehen. Ben, du übernimmst die Sache. Birger hat genug mit den Mordfällen zu tun. Aber stimmt euch trotzdem ab.« Er nickte in die Runde und beendete die kurze Besprechung.
Es war zwei Minuten nach zehn, als Andresen die Grundschule an der Blücherstraße betrat. Das rote Backsteingebäude, das schon mehr als hundert Jahre alt sein musste, strahlte etwas Ehrwürdiges aus. Andresen dachte sofort an seine eigene Schulzeit und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Er war wahrscheinlich das gewesen, was Lehrer heutzutage als Kind mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bezeichneten. Beinahe wöchentlich hatte er bei seiner Rektorin antanzen müssen.
Auf einem kleinen Hinweisschild im Foyer war das Sekretariat ausgeschildert. Andresen folgte dem Gang, bis er eine Doppelschwingtür aus verblendetem Glas erreichte. Im nächsten Moment stieß eine Frau die Tür von innen auf und trat energisch auf ihn zu. Andresen erkannte die Schulleiterin sofort. Er hatte sich informiert und wusste, dass Gisela Sachs einundfünfzig Jahre alt war und seit knapp fünfzehn Jahren die Leitung der Blücher-Grundschule innehatte.
»Ah, da sind Sie ja. Ich habe Sie bereits erwartet.« Sie streckte Andresen die Hand hin, vermied es jedoch, ihm in die Augen zu blicken.
»Frau Sachs«, entgegnete Andresen. »Entschuldigen Sie die kleine Verspätung. Sie wissen ja, wie es um den Verkehr in Lübeck bestellt ist.« Er zwinkerte ihr zu und lächelte.
»Scherzen Sie nur, solange Sie noch können«, antwortete die Schulleiterin gleichgültig. »Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Dort können wir uns ungestört unterhalten.«
Sie betraten das bieder eingerichtete Büro, in dem es nach Parfum und Schwarztee roch. Andresen dachte wieder an seine eigene Schulzeit und kam zu dem Schluss, dass die Frau vor ihm ohne Weiteres als seine damalige Rektorin hätte durchgehen können. Gisela Sachs trug eine moderne Hornbrille. Ihre Frisur und das Auftreten erinnerten ihn an eine alternde Hollywood-Schauspielerin, deren Name ihm nicht einfallen wollte.
»Setzen Sie sich bitte.« Sie deutete auf einen Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Gerne.«
Sie goss ihm aus einer abgegriffenen Thermoskanne ein. Andresen wartete ab und nippte an der Tasse. Dann ergriff er das Wort.
»Sie wissen, weshalb ich hier bin. Am Telefon haben wir ja bereits über ein paar Dinge gesprochen. Was mich am meisten interessiert, ist die Verbindung, oder sollte ich besser sagen, die mögliche Verbindung zwischen Brigitte Jochimsen und Hanka Weichert. Beide waren einige Jahre lang zur gleichen Zeit an dieser Schule tätig.«
»Wissen Sie, was mich wundert?«, sagte Gisela Sachs nach einigen Sekunden des Schweigens. »Warum fragen Sie mich nicht nach Katharina Kock? Sie ist
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