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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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im Anzug mit Hut, aber ohne einen Bart, der seine Leidensmiene hätte verbergen können.
    Arkadi fragte sich, ob ein Rabbi, sei er tot oder lebendig, die Hoffnungen dieser Menschen erfüllen konnte, die warteten, bis sie an die Reihe kamen und eintreten durften. Viele hielten Briefe in Händen, und er wusste, worum sie baten: um Gesundheit für die Kranken, um Erlösung für die Sterbenden, um Schutz vor Selbstmordattentätern. Arkadi spulte das Band in Zeitlupe weiter, um zu zeigen, wie Bobby in dem Augenblick, als er an der Reihe war, aus der Schlange ausscherte. Alle anderen waren neugierigentspannt wie auf Großvaters Schoß. Sie sangen und tanzten, die Hände auf den Schultern des Vordermanns, in einer Schlange über die Straße. Bobby stand abseits und bewegte sich nur, um der Kamera auszuweichen. Als die Leute Sandwiches auspackten und aßen, verschwand er. Vanko schwenkte wieder zu Tänzern hinüber, dann zu weiteren Besuchern der Gruft und schließlich zu einer langen Reihe von Männern, die am Fluss standen und ein Gebet sprachen.
    Jakows krächzende Stimme bekam Fülle: »Je’he sche’me rabba me’vorach lealam ul’ almej almaja.« Er übersetzte: »Es sei gelobt und verherrlicht und erhoben und gefeiert und hocherhoben und erhöht und gepriesen der Name des Heiligen, gelobt sei er.« Und er fügte hinzu: »Das Kaddisch. Das Totengebet.«
    Die Kamera streifte flüchtig Bobby. Seine Lippen waren versiegelt. Dann nahmen die Busse ihre menschliche Fracht wieder auf, bildeten einen Konvoi und machten sich auf die Rückfahrt nach Kiew. Hier im Zimmer hatte Bobby das Gesicht in den Händen vergraben.
    »Warum sind Sie letztes Jahr hergekommen, Bobby?«, fragte Arkadi. »Sie haben das Grab nicht besucht, nicht gesungen, nicht getanzt, nicht gebetet. Sie haben mir erzählt, Sie seien hergekommen, um sich nach abgebrannten Brennelementen umzusehen, und das ist mit Sicherheit nicht geschehen. Sie sind mit dem Bus gekommen und mit dem Bus wieder weggefahren, aber Sie haben nichts gemacht. Warum also waren Sie hier?«
    Bobby sah auf, die Augen gerötet und feucht. »Pascha hatte mich darum gebeten.«
    »Sollten Sie das Grab besuchen?«, fragte Arkadi.
    »Nein. Ich sollte nur beten, das Kaddisch sprechen. Ich habe ihm erklärt, dass ich so etwas nicht mache, aber er hat gesagt: >Fahr hin, dann wirst du es schon tun.< Er hat mich so bedrängt, dass ich nicht ablehnen konnte. Aber als ich dann hier war, konnte ich einfach nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich auch für meinen Vater nicht gebetet habe. Er starb im Gefängnis, aber er wollte ein Kaddisch, besonders von mir, nur war ich da schon auf der Flucht wegen einer Aktiengeschichte. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall war es meine Schuld. Aber wie hat Gott meinem Vater mitgespielt? Das halbe Leben im Gefängnis, eine Krankheit, die ihm den Körper raubte, meine Mutter als Frau und mich als Sohn. Deshalb habe ich mit all dem Schluss gemacht. Ich tu es einfach nicht mehr.«
    »Was hat Pascha dazu gesagt, als Sie wieder in Moskau waren?«
    »Ich habe ihn belogen. Der einzige Gefallen, um den er mich jemals gebeten hat, und ich habe ihn hängen lassen. Und er hat es gespürt.«
    »Warum hat er gerade Sie ausgesucht?«
    »Wen denn sonst? Ich war sein Mann. Außerdem hatte ich ihm erzählt, dass ich früher mal Talmudschüler war. Ich, Bobby Hoffman. Können Sie sich das vorstellen?«
    Bevor Bobby vollends den Moralischen bekam, wollte Arkadi die Fakten geklärt haben. »Für wen haben die Männer am Fluss das Kaddisch gesprochen? Für die Juden, die bei dem Pogrom ermordet wurden?« Ein teilnahmsloses Nicken. »Und deshalb hat Pascha Iwanow Sie von Moskau hergeschickt?«
    »Es musste Tschernobyl sein.«
    »Um für die Opfer des Pogroms ein Gebet zu sprechen.« Das zumindest schien geklärt.
    Bobby musste lachen. »Sie verstehen nicht. Pascha wollte ein Kaddisch für Tschernobyl, für die Opfer des Reaktorunfalls.«
    »Wieso?«
    »Das wollte er nicht sagen. Ich habe ihn gefragt. Und nach meiner Rückkehr nach Moskau hat er nie wieder darüber gesprochen. Monate gehen ins Land, und alles ist in Butter, wie’s scheint. Dann springt Pascha aus dem Fenster, und Timofejew wird hier die Kehle durchgeschnitten.«
    Na ja, dachte Arkadi, es hatte durchaus Anzeichen dafür gegeben, dass sich etwas zusammenbraute. Absonderung, Verfolgungswahn, Nasenbluten.
    »Ich kann mir nicht helfen«, fuhr Bobby fort, »aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Pascha und Timofejew heute noch

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