Trinken hilft
Diesseits, peilte die nächste Klausur an, und im Notfall suchte ich mein Heil lieber bei einem würzigen Muskateller als in Gebeten. Also ließ ich das brodelnde Wien für ein paar Tage hinter mir, um bei meiner Mutter auf dem Land dem Altweibersommer noch ein paar gesegnete Tage abzugewinnen. Papas Geburtstag fiel in diese Woche, Mama und ich pilgerten an sein Grab, und zusammen entzündeten wir ein Laternenlicht.
Wir sind keine fleißigen Friedhofsgänger, Papa war es auch nicht, und somit erspart er uns Schuldgefühle, das ist wohltuend. An seinem Grab sprechen wir mit ihm, als sei er unter uns. Wir sagen: Sei froh, dass du das letzte Spiel von Manchester United nicht erleben musstest oder Der Hüttenwirt von der Welser Hütte hat aufgehört. Schade, gell. Den mochtest du doch so gern. Natürlich vermissen wir ihn. Mittlerweile auf eine schmerzlose, rein melancholische Art. Wir haben gelernt, mit der Lücke zu leben, mit der Unvollkommenheit der Welt und ihrer Vergänglichkeit, und uns in heiterer Gegenwärtigkeit zu üben. Nachdem wir da und dort noch verblühte Rosenblätter abgezupft hatten, verließen wir das Grab und schlenderten nachdenklich auf das Friedhofstor zu.
»Annabelle, ich muss dir etwas sagen.« Mamas Stimme klang seltsam spröd inmitten dieser friedlichen Stille, an diesem friedlichen Nachmittag. »Ich glaube, du bist jetzt alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Der Papa ist nicht dein leiblicher Vater.«
»Was?« Ich blieb stehen und starrte sie an. Sie gilt als lustiges Haus, sie versucht sich durch Scherze von den Bedrückungen des Alltags zu distanzieren, und manchmal schießt sie mit ihrem Witz über das Ziel hinaus. Mich ärgert das, denn bei Müttern darf man doch etwas Besonnenheit erwarten, oder?
»Was starrst du mich so an? Das ist heutzutage doch keine Todsünde …«, sagte sie und zog mich weiter, als könne man nach so einem Satz einfach weitergehen, zur Tagesordnung übergehen und Zwetschgenknödel essen.
»Sag das noch einmal.« Ich blieb wie festgefroren stehen und betrachtete sie.
»Komm schon, mach jetzt bloß kein Theater! Himmel, du bist doch erwachsen.«
Stimmt. Man wird sehr schnell erwachsen, wenn die Mutter emanzipiert und kein Kind von Traurigkeit ist, wenn die Mutter das Leben weniger ernst nimmt als man selbst in seinen unsicheren Momenten. Wenn die Mutter die Unwägbarkeiten des Schicksals mit einem schelmischen Bonmot vom Tisch wischt. Die Gesetze der Physik gelten auch in Familien. Die Natur strebt nach Gleichgewicht. In unserer Familie hat Mama die ganze Leichtigkeit für sich gepachtet, Papa war ihr ernsthafter Gegenpol, und nun, seit er tot ist, habe ich seinen Part, die Rolle der Gewissenhaften und Bodenständigen übernommen. Ganz der Papa, sagte sie oft zu mir, und nun soll er gar nicht mein leiblicher Vater …?
»Wer ist mein Vater?«
»Also gut.« Ihre Augen wichen mir aus. Verlegen suchten sie Beistand vom Himmel. Sie atmete durch, dann gab sie sich einen Ruck: »Es ist … der Papst.«
»Hör auf mit dem Quatsch!« Ich hatte genug von ihren Scherzen und beschleunigte meine Schritte. Ich war nicht aus Wien geflüchtet, um mich daheim in religiöse Fantasien verwickeln zu lassen.
»Annabelle, bitte!« Sie holte mich ein. »Das ist kein Quatsch. Ich weiß, es klingt unglaublich. Aber es ist die Wahrheit.«
»Warum nicht gleich Gottvater?«, schnauzte ich sie an. »Das hatten wir doch schon einmal. Unbefleckte Empfängnis und die ganzen Storys. Bist du völlig abgedreht?«
»Du kennst mich doch. Ich bin Agnostikerin, ich glaube nur an die Schöpfung und die Allmacht der Natur, ich glaube nicht an diese kirchlichen Mythen. Aber es ist nun mal passiert.«
»Was ist passiert?«
»Na ja, dass ich mit dem Papst geschlafen habe. Das heißt, damals war er noch nicht Papst. Ein fescher Mittvierziger in Bergsteigerkluft, ein ganz normaler Mann. Ich stand immer schon auf ältere Männer, dein Vater … ich meine, Papa …«
»Habemus Papam«, entfuhr es mir gallig.
»… also mein Mann war ja auch einiges älter als ich«, fuhr sie unbeirrt fort, und dann erzählte sie mir die Geschichte meiner Zeugung.
Natürlich wusste ich, dass sie in ihrer Jugend keine Heilige gewesen war. Sie habe damals, nach der Ausbildung, ihre Fremdsprachenkenntnisse auffrischen wollen und in Chamonix einen Sommer lang im Grandhotel gearbeitet. Einer der Gäste, ein Österreicher, habe sich beim Bergsteigen am Mont Blanc das Kreuz verrissen und bat an der Rezeption darum,
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