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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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ausgestattete Kammer zugewiesen bekommen hatten. Tristan und Courvenal nahmen für sich die Betten beim Fenster, das dritte war nahe der Tür noch unbelegt. Sie verstauten ihre Tasche, dann verabschiedete sich Courvenal, um die Äbtissin aufzusuchen. Erst da entfaltete Tristan das Blatt.
    Floräte hatte den Brief schreiben lassen, das war ihm klar, denn sie konnte es nicht selbst. Vielleicht hatte ihr sein Vater Rual geholfen, doch das konnte er nicht wissen, nirgends gab es einen Hinweis auf den wahren Verfasser. Auch einem der kristlichen aus der Kirche von Conoêl hätte sie diktieren können. Ganz gleich: Es war ein schön anzusehendes Schreiben, in den Zeilen lang gezogen wie ein Vertrag, an dessen Ende die Siegel an Bändern hingen, säuberlich in die Tinte gesetzt wie für die Ewigkeit, verfasst in lateinischer Sprache, die sie auf der Burg nur selten benutzten, und Floräte schon gar nicht, doch das war ihm unwichtig, so wunderbar warm, wie dieser Brief auf ihn wirkte:
    Du fehlst mir so, mein allerliebster Sohn, begann er, als würde ich das Rauschen des Meeres plötzlich nicht mehr hören können, das immer um mich war, wie du sonst auch. Du fehlst mir, seihst wenn es regnet, während du schon die wärmenden Strahlen der südlichen Sonne genießen darfst. Du fehlst mir so!
    Tristan musste das Blatt weglegen, weil er Angst hatte, seine Tränen, die plötzlich in ihm aufgestiegen waren, könnten darauftropfen und die Schrift der nachfolgenden Zeilen unkenntlich machen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er wollte bei seiner Mutter sein.
    Rual, der Marschall und dein Vater, las er weiter, ist voller Hoffnung, dass du eine gute Reise hast. Er verwaltet unser Land gewissenhaft. Du musst dir keine Sorgen machen. Höre immer auf die Worte deines Erziehers. Die Stadt, in der du weilst, ist schön und seit dem Altertum bekannt. Aus den Sternen habe ich eine Weisung erhalten, dass am Abend des Vollmonds dort am Hafen bei der Statue des Löwen jedes Jahr ein besonderes Ereignis stattfindet. Geh dorthin, mein Drystan. Und denke an mich, an deine Mutter.
    Es war das erste Schreiben in seinem Leben, das er nur für sich erhalten hatte. Tristan war voller Freude. Dass Floräte genau wusste, wo sie in Constantia untergebracht wären, wunderte ihn nicht. Courvenal hatte sicherlich seine Reise genau mit Rual durchgesprochen. Ein wenig störte ihn die Schreibweise seines Namens, die in dem Brief auftauchte. Da sie ihn aber diktiert haben und ihr Diktat ins Lateinische übersetzt worden sein musste, war wohl diese eruisch klingende Form zustande gekommen. Zumindest erzählte der Junge Courvenal im Refektorium erfreut von dem Inhalt des Schreibens und wie ihn seine Mutter aus der Ferne auf das Ereignis am Seeufer hingewiesen hatte.
    »Vielleicht werden wir ein Licht am Himmel sehen, ich hier im Süden, sie dort in Parmenien, und wir werden im selben Moment aneinander denken. Ist das nicht herrlich?«
    »Du hast recht«, sagte Courvenal und runzelte die Stirn. »Alles auf unserer Welt geschieht zur gleichen Zeit, zumindest solange wir auf ihr wandeln. Wir wissen nur nicht, was dort geschieht, wo wie gerade nicht sind. Aber der Himmel und die Sterne sind immer über uns. Wären wir einer dieser Sterne, wüssten wir, was hier unten bei uns und überall geschieht. Wir müssten ein riesiges Auge haben, um alles betrachten zu können. - Ein riesiges Auge!«, setzte er nachdenklich hinzu und fragte nach einer Pause: »Darf ich den Brief deiner Mutter einmal sehen?«
    Tristan gab ihm das klein zusammengefaltete Blatt, und das Erste, was Courvenal tat, war: Er roch daran. »Merkwürdig«, sagte er und bereute die Bemerkung schon, denn Tristan wurde gleich argwöhnisch.
    »Stimmt etwas nicht?«
    »Doch, doch, mein Junge«, beschwichtigte ihn Courvenal, »alles stimmt. Ich habe nur lange nicht mehr an einem Bogen Pergament gerochen, das über so viele Meilen getragen wurde, in Pferdetaschen, am Körper fremder Menschen, bei Wind und Wetter, Regen und Sturm. Ich glaubte sogar, das Salz des Meeres an ihm wahrnehmen zu können, das verwirrte mich ein wenig.«
    »Das Salz des Meeres?« Tristan musste lachen. »Gebt her«, sagte er, nahm Courvenal den Brief ab und hielt ihn gleichfalls an seine Nase. »Das Salz der Tränen, meint Ihr vielleicht«, sagte er, »denn meine Mutter schreibt, sie würde mich genauso vermissen, wie sie das Rauschen des Meeres vermissen würde, wenn sie es plötzlich nicht mehr hören könnte. Da - lest selbst!«
    Mit

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