Trojaspiel
nach einiger Bedenkzeit klar wurde, es konnte keine Antwort geben. Trotzdem glaubte er mit seinen eigenen Plänen eine Lösung für das von seinem Freund formulierte Problem zu besitzen. Theo zog den Dieb, der im Gesicht schmal geworden war, hinter eine Kehrichttonne und bat ihn zunächst, sich keine Sorgen zu machen. Gleichwohl empfahl er, in den nächsten zwei bis drei Tagen bei Nachbarn, Freunden oder im Hotel zu übernachten. Und er bat ihn, den Rabbiner wenn möglich zu überreden, seiner neuen Kammer ebenfalls fernzubleiben, und die Lieferung der durch den Hausmeister geretteten Habseligkeiten der Lanaievs, mit der Birnbaum den Dieb betraut hatte, über einen Dienstmann bestellen zu lassen. Zipperstein nickte zu alledem, als hätte er es mit Japonchik selbst zu tun. Sein bleiches Gesicht stand dabei so häßlich zwischen Hut und Anzug, daß man glauben wollte, der Dieb sei, um Nachstellungen zu entgehen, in eine Art Totenstarre gefallen. Was ihn wirklich daran hinderte, auf der Stelle tot umzufallen oder heulend wie ein Gespenst in die Nacht davonzulaufen, war allein das schalkhafte Lächeln Theos, in dem, wie er glaubte, seine einzige Hoffnung lag. Weil es doch einem Knaben gehörte, der Wunderdinge vollbringen, und selbst den blasierten Räuberhauptmann fesseln konnte. Er wollte sich in den kommenden Tagen immer wieder an dieses Lächeln erinnern. Zipperstein verabschiedete sich wortlos, legte dem Knaben nur die bleiche Hand auf die Schulter und eilte davon.
Theo stand jetzt am Anfang der Mjasojedovstraße, die ohne den ängstlichen Zipperstein ganz harmlos wirkte. Er überlegte, wie es wohl wäre, wenn er auf diesem Fleck ein paar Bretter beiseite schieben könnte, um sich wieder dort aufzuhalten, wohin Erwachsene ihm zu folgen nicht mutig genug waren. Er ging dann langsam, hielt sich, Saufbrüdern ausweichend, in der Mitte der Straße, von der er wußte, daß sie vierzehn Meter oder vierunddreißig Schritte breit und dreihundertzwölf Meter oder siebenhundertneunundvierzig Schritte lang war und die ihm jetzt viel größer vorkommen wollte. Die so auf die Endlosigkeit hin ausgedehnt schien, daß er fürchtete, sich auf sein Zahlenmaterial nicht mehr verlassen zu können, und deswegen zu weinen begann.
An der rückwärtigen Tür des Elefanten erwartete ihn Herr Krasnoglaz. Er lehnte dort breitbeinig mit verschränkten Armen und kritisch zusammengekniffenem Auge, wie ein kriegsversehrter Tempelwächter. Theo überlegte noch, ob er das ihm eingeschärfte Klopfzeichen trotzdem hören lassen sollte, ob man eine Respektsperson wie den Rotäugigen höflich grüßen oder ihr vertraulich zunicken mußte, als Sascha einen einschüchternden Schritt in die Nacht hinaus tat, sich wie ein mit Steinschlag drohendes Gebirge vor ihm aufbaute und »Wo ist Zipperstein, der Schweinekerl?« schnappte. Keine Mutter und kein Vaterersatz war anwesend, um Theo hinsichtlich einer günstigen Antwort zu beraten, aber er ahnte und hatte es Zippersteins Gestammel als Lehre entnommen, daß zur Knechtschaft womöglich Feigheit gehörte und daß der künftige Tonfall von Krasnoglaz und seinesgleichen von der Kühnheit seiner Antwort abhängen würde.
»Zipperstein ist ein Freund«, sprach der Junge ruhig gegen das finstere Gestein, stellte sich, die Haltung des Rotäugigen imitierend, ebenfalls breitbeinig, um hinzuzufügen, »und er sieht mehr als Sie!« Ein Rucken und Schütteln ging durch den Fels und kletterte als leichtes Beben bis zu seinem Grat empor.
Krasnoglaz lachte noch, als Theo bereits die Treppe hinaufstampfte, seine steife hohe Kadettenmütze auf dem Kopf festziehend, weil er es haßte, von Mann und Frau in dieser nachtaktiven Wohngemeinschaft über den Schopf gestreichelt zu werden. Auf der Galerie saß Mischka auf einem ehemals die Odessaer Oper verschönernden samtbezogenen Diwan und las eine Zeitung. »Setz dich, Monsieur«, sagte er, den Rand der Odessaer Neuesten Nachrichten senkend, in denen er, künftige Geschäfte im Blick, die Todesanzeigen las.
»Ich bin müde«, antwortete der Junge verhalten.
»Es ist für einen wie dich die richtige Zeit, müde zu sein – trotzdem, noch auf ein Wort«, drang es hinter der Zeitung hervor. Theo hockte sich in einen hochlehnigen Ledersessel aus der Hinterlassenschaft des Grafen von Whitmore, des Gründers der ersten russischen Rohcelluloidfabrik, der ein nächtliches Zusammentreffen mit Vertretern des Japonchik-Clans nicht überlebt
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