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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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ganze Kirche riecht staubig, nach Weihrauch. Ich bemerke das Weihwasser in einem Becken zu meiner Linken, und obwohl es mich an alles erinnert, was ich getan habe, und an alles, was schiefgegangen ist, tauche ich die Finger ein und berühre meine Stirn damit. Dabei erinnere ich mich daran, wie ich in der Schule ein paarmal in verregneten Mittagspausen »Dungeons & Dragons« gespielt habe. In einigen Versionen des Spiels konnte man in eine Stadt gehen und sich Weihwasser besorgen, mit dem man alle Gebrechen, bis auf die allerschlimmsten, kurieren und seine Gesundheit verbessern konnte. In anderen Versionen konnte man es als Waffe gegen böse Geister oder die Untoten benutzen. Aber niemand hat je gesagt, dass man es trinken könne und in eine andere Welt reisen – und dass das in Wirklichkeit eine ziemlich schlechte Idee wäre. Ich gehe weiter in die Kirche hinein. Der Ort ist klein, kalt und beruhigend, hat Eichenpaneele an den Wänden, einfache Holzbänke rechts und links des Mittelgangs. Ein Schild weist auf eine Treppe, die zur Kapelle hinunterführt.
    Und – ah – es ist so warm, wenn man die Treppe hinabsteigt. Unten brennen Hunderte von Kerzen: mehrere Ständer mit Teelichtern und ein ganzer Tisch voll mit großen Kerzen in kirchenblauen Plastikhaltern, jede mit einem Bild, obwohl ich nicht erkennen kann, um was für Bilder es sich handelt. Als ich unten bin, ist mir erst richtig heiß, und ich wickele meinen Schal ab. Es ist immer noch niemand hier. Zu meiner Rechten, umgeben von noch viel mehr Kerzen, steht eine Statue, die wohl den hl. Judas darstellt. Die Wand dahinter weist neben einem Mosaik jede Menge verrußter Ziegel auf. Die Statue ist vergoldet: ein bärtiger Mann, auf seinen Stab gestützt. Zwischen ihm und mir sind Gitterstäbe, sodass er einen Augenblick lang wie eingesperrt aussieht. Wenn man die Situation aus seiner Perspektive betrachtet, bin ich natürlich die Inhaftierte. Ich gehe in der Kapelle umher. In einer Nische hängen gelbe Haftnotizen mit Fürbitten. Bitte hilf meiner Tante, die so große Schmerzen hat. Hl. Judas, bitte verwende dich für meinen Sohn Stefan, er ist doch erst neunzehn. Lass meinen Bruder nicht sterben. Bitte sorge dafür, dass mein Sohn aus dem Krieg zurückkehrt. Die Bitten sind unterzeichnet von Menschen aus Mauritius, Polen, Spanien, Brasilien … Aus der ganzen Welt. Ein Schild erklärt, dass der hl. Judas der Schutzpatron der hoffnungslosen Fälle ist. Der hl. Judas scheint der Heilige zu sein, an den man sich wendet, wenn alle anderen versagt haben. Andererseits entnehme ich einer Broschüre, dass der hl. Judas ein umstrittener Heiliger ist und vielleicht nicht mal existiert.
    Ich habe noch nie in meinem Leben gebetet. Aber jetzt, nachdem ich eine Kerze angezündet und auf einen der lodernden Ständer gestellt habe, gehe ich zur Statue zurück und knie davor nieder. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll. O bitte, heiliger Judas, hilf mir und lass diese Männer mich nie finden kommt mir albern vor. Irgendwie denke ich, dass ich nicht für mich selber beten sollte; ich sollte für einen anderen Menschen beten. Aber wen habe ich, für den ich beten könnte? Sogar der letzte Mensch, mit dem ich geschlafen habe, ist mir gleichgültig. Der anonyme Sohn von der gelben Haftnotiz, der aus dem Krieg zurückkommen soll, bedeutet mir mehr. Anstatt für irgendjemanden zu beten, starre ich einfach die Statue an, bis ihre Ränder zu verschwimmen beginnen. Wer bist du?, denke ich. Was machst du mit all der Energie, die an diesem Ort zusammenkommt. Denn es gibt hier diese Energie: Sie knistert um mich herum mit einer Intensität, die eine Million dieser Kerzen nicht aufbringen könnten. Was ist das? Ist es meine Hoffnung? Die Hoffnung anderer Menschen? Ganz einfach die Kraft des Gebets? Ich spüre, dass der hl. Judas mich ansieht, und denke, wenn er wirklich anwesend wäre, würde er mir sagen, dass ich damit aufhören solle, zu spekulieren und Fragen zu stellen, die sich eh nicht beantworten lassen.
    Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendwas anderes tun kann.
    Schließlich bete ich um Sinn. Ich bete darum, dass die Grenzen der Realität deutlich werden. Um eine Welt – und eine Art des Seins –, die einen Sinn ergibt. Ich bete um ein Leben nach dem Tod, das nicht wie dieses Leben ist. Ich bete um das Ende der Mysterien. Wie sähe ein Leben aus, wenn alle Mysterien offenbar wären? Wenn es keine Fragen gäbe, gäbe es keine Geschichten. Wenn es keine

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