Troposphere
Aber ich renne nicht. Ich gehe durch zwei dieser Tore hindurch und an einem kleinen Waldstück zu meiner Linken vorbei, die dünnen Äste der winterlichen Bäume schirmen mich gegen den blassen Himmel ab. Als ich mich der Kuppe des Hügels nähere, fängt es leicht zu regnen an, und in einiger Entfernung kann ich gelbe Baufahrzeuge um das eingestürzte Newton Building herumzockeln sehen, wie Spielzeug in einem Kindergarten. Als ich das Gebäude erreiche, beginnt das verrückte Gefühl zu schwinden. Ich bemerke, dass der Spaziergang mehr als eine halbe Stunde gedauert hat. Ich wünschte, ich könnte mein Auto für den Rückweg loseisen, aber ich hatte am Freitag vor, auf dem Heimweg vollzutanken, und das kann ich mir jetzt nicht mehr leisten.
Das Gebäude der Institute für Anglistik und Amerikanistik steht noch, und es ist nicht abgeschlossen. Das heißt, dass jemand drinnen sein muss. Was eigentlich fast immer der Fall ist. Sogar sonntags muss man selten selber die Tür aufschließen. Ich spüre aber niemandes Anwesenheit, während ich durch den langen Korridor gehe. Und das liegt nicht nur daran, dass ich nicht das Summen der Deckenlampen oder das monotone Geräusch von nervösen Fingern hören kann, die auf billige Tastaturen einschlagen. Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass irgendjemand auf diesem Stockwerk ist. Ich betrete mein Büro und merke, dass jemand die Heizung angestellt hat – dabei ist es mir von dem Weg bergauf bereits zu heiß. Ich öffne das Fenster und dabei fallen mir die Spritzmuster auf, die der Regen auf die Scheibe gezeichnet hat: unterbrochene diagonale Linien, die irgendwie absichtsvoll scheinen und mich an Fotos von Teilchenbeschleunigern erinnern. Ich fahre meinen Rechner hoch und gehe hinauf ins Geschäftszimmer, um nach der Post zu sehen.
Mary ist im Zimmer und spricht mit Yvonne, der Sekretärin.
»Ich vermute, die meisten Leute lesen ihre E-Mails nicht zu Hause«, sagt Yvonne gerade. »Ich meine, am Freitag haben sie davon gesprochen, die Universität für eine Woche zuzumachen. Ich wäre überrascht, wenn hier vor kommendem Montag Leute auftauchen würden. Ich nehme an, einige kommen vielleicht am Freitag rein, aus Neugier. Aber die Dozenten kommen in der vorlesungsfreien Zeit natürlich sowieso nicht alle vorbei.«
Der Fachbereich wurde früher nach dem Rotationsprinzip von den Lehrstuhlinhabern geleitet. Mittlerweile wird er wie die meisten anderen Fachbereiche von einem Geschäftsführer verwaltet, der vor allem eingestellt wurde, um über den Etat zu wachen. Mary hat sich irgendwie das Auftreten einer Akademikerin angewöhnt, womöglich in der Hoffnung, wir würden ihr so eher vertrauen. Aber sie hat in Wirklichkeit keine große Ahnung vom akademischen Leben, und ich bekomme oft mit, wie Yvonne sie informiert, was für Dinge Dozenten normalerweise so tun. Mary sieht total genervt aus. »Wer ist denn hier?« »Max ist hier. Ach, hallo, Ariel. Ariel ist hier.« Mary und ich wissen beide, dass meine Anwesenheit hier für niemanden von Bedeutung ist. Ich habe in diesem Semester eine einzige Lehrveranstaltung, und das war's. Ich habe keine Verpflichtungen in der Verwaltung, und ich bin kein Mitglied in irgendeinem Ausschuss. Ich bin einfach eine Doktorandin, und ich habe nicht mal mehr einen Doktorvater. Deswegen überrascht es mich, dass Mary mich so ansieht, als wäre ich jemand, mit dem sie sprechen müsste.
»Ah, Ariel«, sagt sie. »Wenn Sie einen Moment Zeit haben, kommen Sie doch bitte mit in mein Zimmer.«
Ich lasse sie an mir vorbei in den Flur und folge ihr dann um die Ecke in ihr Büro. Sie öffnet die Tür und hält sie für mich auf, während ich hineingehe. Ich glaube, ich bin noch nie in Marys Büro gewesen. Sie hat zwei von diesen sogenannten »bequemen« Sesseln so platziert, dass sie vor einem niedrigen hellen Beistelltisch stehen, ich setze mich in den einen der beiden, und sie nimmt im anderen Platz. Ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind, da man seinem Boss an einem Schreibtisch gegenübersaß. Das kann man wegen der Rechner, die im Weg stehen, nicht mehr machen. Jeder schaut in Büros jetzt auf Wände oder Bildschirme.
Mary sagt kein Wort.
»Hatten Sie ein schönes Wochenende?«, frage ich sie.
»Was? O ja, danke. Nun denn.« Sie schweigt wieder, aber ich vermute, dass sie jetzt sagen will, was auch immer sie sagen will, und unternehme deshalb keinen weiteren Versuch in Sachen Smalltalk. »Nun denn«, sagt sie wieder. »Sie haben da ein ziemlich
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