Troposphere
umsonst geben. Ob das Institutsgebäude noch in Ordnung ist? Das will ich mal stark hoffen, weil ich an Burlems Rechner ran muss. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der wahrscheinlich eine Ausgabe von »The End of Mister Y« gesehen hat, und vielleicht ist auf seinem Rechner etwas, das mir verrät, wo er sein Exemplar herhatte oder wen ich kontaktieren könnte, um mir einen Blick auf die fehlenden zwei Seiten zu verschaffen. Ich habe das letzte Kapitel gestern Abend schließlich doch nicht gelesen. Stattdessen habe ich auf meinem iPod Beethovens Neunte gehört und alles aufgeschrieben, was mir zu dem Teil des Romans, den ich gelesen hatte, in den Sinn kam. Ich bin erst um drei Uhr morgens ins Bett gekommen, deshalb bin ich heute nicht ganz ausgeschlafen.
Ich bin noch nie zu Fuß in die Universität gegangen, ich kenne nicht mal den richtigen Weg. Ich weiß nur, dass es ein steiler Anstieg ist und ich nicht den Weg hochgehen will, den ich am Freitag runtergekommen bin, weil ich überzeugt bin, dass der richtige Weg kürzer sein muss. Deswegen tue ich das Einzige, was mir einfällt, und gehe zur Touristeninformation neben der Kathedrale. Außer einer Frau mit grauer Dauerwelle und einer Brille mit dünnem Drahtgestell ist niemand da. Sie ist damit beschäftigt, eine Auslage von Bechern mit Kathedrale drauf zu arrangieren, und ich muss ein paar Momente lang herumstehen, bevor sie mich zur Kenntnis nimmt. Es stellt sich heraus, dass es eine kostenlose Stadtkarte mit eingezeichneten Spazierwegen gibt. Sie reicht mir eine von denen, und ich gehe sofort damit los und um die Kathedrale herum, bis ich ein Hinweisschild in Richtung North Gate finde. Ich folge dem Schild und gehe an einigen Reihenhäusern, einem plätschernden Mühlbach und an einem Pub vorbei, wo ich laut Karte erst nach links und dann rechts abbiegen muss. Ich überquere eine Brücke und laufe an ein paar Brennnesselsträuchern vorbei einen Hügel hoch, bis ich zu einem Fußweg komme, der in einen Tunnel mündet, der unter den Bahngleisen durch führt: eine seltsame zylindrische Röhre mit glatten, graffitibeschmierten Wänden und runden orangefarbenen Lichtern, die angehen sollen, wenn man unter ihnen herläuft (zumindest nehme ich das an; vielleicht ist die Wirkung aber auch das Werk eines Poltergeists, oder sie verdankt sich einfach der Tatsache, dass die Lichter kaputt sind und flackern). Ich gehe am Rand eines schäbigen Vorstadtparks entlang, einer der Orte, wo am Samstagnachmittag Kinder Fußball spielen und Hunde miteinander kämpfen, dann durch eine Gasse, über eine Hauptverkehrsstraße, an einem Friseur vorbei und in eine Wohnsiedlung. Ich glaube, hier wohnen Studenten, wobei die Häuser eher so aussehen, als zöge man hier nur ein, wenn man pensioniert ist oder das Leben in anderer Weise hinter sich hat. Während ich den Hügel hochgehe, sehe ich nichts als cremefarbene Bungalows und Vorgärten: keine Graffiti, keine Spielplätze, keine Geschäfte, keine Pubs. In der ganzen Gegend herrscht eine Stille, wie man sie unmittelbar vor dem Weltuntergang erwarten würde. An Tagen wie diesem habe ich keine Angst vor Schmerzen oder dem Tod. Ich weiß nicht, ob es an meiner Müdigkeit, dem Buch oder sogar an dem Fluch liegt, aber während ich durch diese Siedlung gehe, fühlt es sich an, als würde jedes Atom in meinem Körper kerngespalten: eine energetische Kettenreaktion, die mich an die Grenzen des Alls katapultieren könnte. Während ich so gehe, sehne ich fast eine Art von Gewalt herbei: zu leben, zu sterben, einfach so. Ich stehe plötzlich dermaßen unter Strom, dass ich die ganze Welt ficken – oder von ihr gefickt werden will. Ja, ich will, dass die Schrapnellsplitter von Millionen von Explosionen mich penetrieren. Ich will mein eigenes Blut sehen. Ich will mit allen anderen zusammen sterben: die ultimative Gemeinschaftserfahrung; der Blitz am Ende der Welt. Ich werde du; du wirst wir; wir werden für alle Zeiten. Eine einstürzende Wellenfunktion der Gewalt. An solchen Tagen denke ich, ich könnte verflucht sein, und alles, was ich denken kann, ist: Jetzt, jetzt, jetzt. Ich will diese fehlenden Seiten haben.
Kurz darauf finde ich den Anfang des Fußwegs zum Universitätsgelände. Verwitterte Tore halten Radfahrer davon ab, gerade bergauf zu rasen, obwohl das wohl auch niemandem einfiele: Es ist praktisch ein Anstieg von fünfundvierzig Grad. Obwohl ich müde bin, ist mir nach Rennen zumute, nur um dieses irrwitzige Gefühl loszuwerden.
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