Troubles (German Edition)
aufgetaucht war. Inzwischen war es zu spät, noch hinzugehen und ihn zu inspizieren. Wenn er dann noch da war – der Major stellte sich vor, dass er vielleicht genauso magisch wieder verschwinden würde, wie er gekommen war –, würde er den Ausflug morgen machen. Nachdem das entschieden war, verwendete er keinen weiteren Gedanken mehr auf die Sache, sondern widmete sich mit ganzer Aufmerksamkeit Miss Bagley und Miss Porteous, die offenbar bereits wussten, womit er den Nachmittag verbracht hatte. Ja, stimmte er ihnen zu, die Tanzbegeisterung der Jugend könne gut ein Grund für ihren mangelnden Respekt gegenüber der älteren Generation sein; aber andererseits sei sie vollkommen harmlos, niemand wolle jemandem etwas Böses damit. Es sei alles nur ein Spaß. Ja, er nehme gern noch eine Tasse Tee, er habe »mächtig Durst«, wie die Iren sagen würden.
Am nächsten Morgen nahm er noch im Schlafanzug seinen deutschen Feldstecher aus der Pappschachtel, in der er ihn aufbewahrte (der preußische Offizier war so rücksichtslos gewesen, den originalen, mit Samt ausgeschlagenen Lederköcher ganz mit Blut zu besudeln) und hob ihn an die Augen. Der Felsbrocken war natürlich noch da und lag längsseits der wehenden Kornähren. Im Grunde hatte er nicht damit gerechnet, dass er verschwunden sein würde. Aber inzwischen hatte sich ein zweites und noch verblüffenderes Objekt dazugesellt. Der Major stellte die Schärfe des Glases nach, um sich zu vergewissern, dass es wirklich war, was es zu sein schien – aber wie konnte es das sein? – ja, es war ein Baumstumpf, die Überreste eines Baumes, die eindeutig gestern noch nicht an dieser Stelle gewesen waren, weder Baum noch Stumpf. Doch da stand er nun, lebensgroß, neben der weiten Fläche des Korns.
Als er sich angezogen hatte, ging er nach unten, aber es war noch zu früh. Edward und der übrige Haushalt hatten mit ihrem Frühstück noch nicht einmal begonnen; sie waren noch beim Morgengebet. Der Major blieb vor der Tür des Frühstücksraumes stehen und lauschte mit dem Anflug eines Lächelns, wie Edward wieder seine Liste von Dingen rezitierte, für die er an diesem Morgen des Jahres 1920 Gott danken konnte. Einen Augenblick lang verharrte er, an die kalte Steinmauer des Ganges gelehnt, und er fand, dass Edwards Stimme müde und unbeteiligt klang. Und ihm schien, dass die Liste im Laufe der letzten Monate kürzer geworden war. Edward verstummte. Jetzt würde er ans Kriegerdenkmal schreiten und die Seiten des hölzernen Buches aufschlagen. Immer noch lächelnd, auf Zehenspitzen, ging der Major davon; die langen Reihen winziger vorwurfsvoller Augen würden wieder einmal vergebens nach ihm Ausschau halten. Und heute konnte er als erster die
Irish Times
lesen und musste nicht warten, bis die Damen den ganzen Vormittag lang die Kolumne »Geburten und Todesfälle« studiert hatten, um zu sehen, welche von ihren Zeitgenossen sie überlebt hatten.
Als er Edward später am Morgen begegnete, sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie schon gesehen, dass auf Ihren Feldern klammheimlich geerntet wird?«
Zu seiner Überraschung nickte Edward finster. »Ich hatte den Eindruck, aber ich war mir nicht sicher. Jetzt muss ich etwas unternehmen.«
»Was wollen Sie denn tun?«
»Das weiß der Himmel. Irgendwie muss ich sie daran hindern.«
»Und wenn sie es ihnen einfach lassen? Die Leute müssen es doch bitter nötig haben, sonst würden sie nicht in der Nacht kommen und es holen.«
»Das ist vollkommen undenkbar. Sie dürfen nicht glauben, dass sie ungestraft davonkommen, wenn sie stehlen, was mir gehört. Schon im nächsten Moment hätten sie die ganze Bude ausgeräumt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Hören Sie, es ist nicht meine Schuld, dass sie sich davongemacht haben. Wenn sie den verfluchten Shinnern nachlaufen, dann sollen die Shinner ihnen auch zu essen geben. Außerdem ist das Korn noch nicht einmal richtig reif. Jeder Dummkopf sieht das.«
»Anscheinend müssen sie es nehmen, wie es ist«, sagte der Major und seufzte. »Wohlgemerkt, ich bin ganz Ihrer Meinung, dass sie selbst schuld daran sind.«
»Also hören Sie, Brendan. Es gibt so etwas wie Recht und Ordnung. Wenn das Land heute in einem dermaßen desolaten Zustand ist, dann deswegen, weil Leute wie Sie und ich die Augen zugedrückt haben. Deswegen sind die Gauner damit durchgekommen.«
»Ach, ich pfeife auf Recht und Ordnung! Zwei armselige Felder mit Korn, das die armen Teufel auch noch selbst gesät haben. Und Sie
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