Trügerischer Friede
Persönlichkeit genommen und nur die nötigen Fertigkeiten gelassen hatte. Eigentlich hatte Lodrik ihn nur von seinem Palastgrundstück verjagen wollen, doch das Grauen war zu stark für das zerbrechliche Hirn gewesen. Seitdem folgte der Mann seinen Befehlen wie der bravste Hund; einen eigenen Willen besaß er nicht mehr.
»Gleb, bring mich nach Hause«, befahl Lodrik beim Einsteigen und setzte sich auf die weich gepolsterte Bank des Gefährts, das schon im nächsten Augenblick anfuhr und durch die Straßen der Hauptstadt rollte.
Er betrachtete die Häuserfronten, hinter deren Fenstern vereinzelt Lichter brannten. Es war gut, Norina die Macht zu überlassen. Er wäre nicht in der Lage gewesen, all die Pflichten zu erfüllen, und niemand aus den anderen Königreichen hätte ihm vertraut. Tarpol erblühte durch seine Gemahlin neu und steuerte friedlichen Zeiten entgegen.
Lodrik langte nach der Ledermappe auf dem Sitz ihm gegenüber, öffnete sie und überflog die Namen der Personen, die sich offen gegen die Neuerungen stellten, die Norina als designierte Kabcara einzuführen gedachte. Es waren weitaus weniger als damals vor rund sechzehn Jahren bei ihm, und dennoch regte sich der Widerstand der Mächtigen.
Seine Kräfte würden sie dazu bringen, sich zu fügen. Stumm lächelte er, weil er sich auf die entsetzten Gesichter
freute, wenn das Grauen in die Gegner seiner Frau kroch, deren Herz peinigte und ihnen den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Niemand durfte es wagen, sich seiner Gemahlin in den Weg zu stellen. Das ließ er nicht zu.
Die Kutsche hielt an. Gleb hatte sie vor dem Palast zum Stehen gebracht, sprang vom Kutschbock und öffnete Lodrik den Verschlag.
»Spann die Pferde aus und kümmere dich gut um sie«, ordnete er an und ging an ihm vorbei. »Danach legst du dich zur Ruhe.«
Gleb verneigte sich und schaute seinen Herrn glücklich an. Wieder einmal hatte er seine Pflicht zu dessen Zufriedenheit erfüllt und sich sein Wohlwollen gesichert. Es gab nichts, was er lieber tat. Lodrik betrat das herrschaftliche Gebäude, das er seit dem Tag liebte, an dem er es zum ersten Mal in seinem zerfallenen Zustand gesehen hatte. Die Fenster waren größtenteils geborsten, Plünderer hatten die Einrichtung, die sie nicht hatten wegtragen können, gründlich zerstört; überall in den Zimmern und weitläufigen Korridoren lagen Bruchstücke vom Mobiliar und Glassplitter. Abgeschlagener Stuck ruhte auf den Marmorplatten und zierte nicht länger die Decken. Einige wenige Räume waren von größeren Verwüstungen verschont geblieben, und in denen lebte der einstige Herrscher Tarpols. Das Gebäude passte zu ihm. Es war alt, war tot und hatte seine Zeit hinter sich. Und konnte dennoch nicht vergehen. Seine Seele, die Menschen, die einst darin gelebt hatten, war davongetragen worden. Zurück blieb ein Gerüst ohne Leben.
Liebevoll strich Lodrik über das Geländer, während er die breite Treppe in den ersten Stock hinaufstieg. Er berührte
im Vorbeigehen die geschundenen Wände und Säulen und
fühlte seine Verbundenheit deutlicher als jemals zuvor.
Der Wind spielte mit den zerschlissenen Vorhängen, die übrig geblieben waren, und ließ sie tanzen. Im ganzen Palast war sein melancholisches Lied zu hören: ein leises Pfeifen und Heulen, das den meisten Menschen zusammen mit den düsteren Zimmern und Fluren eine Gänsehaut bereitet hätte. Lodrik schätzte diese Stimmung.
Die Düsternis besaß einen Makel: Aus dem Trakt, in dem er lebte, schimmerte goldgelbes Licht unter den Türritzen hindurch.
Seine gute Laune schwand. Er wollte niemanden sehen. Selbst seine Unterhaltungen mit Norina über die Zukunft des Landes führte er seit längerem per Briefwechsel, seine Ratschläge an sie schrieb er nieder und ließ sie durch Gleb
überbringen.
Bislang war es ihm nach seinem Auszug aus Ulsar gelungen, ihrem Ansinnen auszuweichen, dass sie sich trafen. Er liebte seine Gemahlin, doch wollte er ihr seinen hohlwangigen Anbück ersparen. Schon lange war er nicht mehr der Mann, den sie kannte und liebte.
Lodrik verzichtete darauf, das Zimmer hinter der drei Schritt hohen Tür mit Grauen zu fluten, sondern drückte die Klinke herab und trat schwungvoll ein. Einen Eindringling könnte er immer noch verjagen. Im Kerzenschein erkannte er die ungeschlachte Gestalt seines jüngsten Sohnes, der es sich auf dem Boden neben dem lodernden Kamin gemütlich gemacht hatte.
»Vater, da bist du ja! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
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