TS 85: Endstation Zukunft
begeisterte sich vor allem an der einsamen Lage des Hauses. Er wollte mit seiner Arbeit vorankommen, und dazu brauchte er Einsamkeit. Das Leben in der Stadt hatte zwar auch manche Annehmlichkeiten zu bieten, aber leider auch zahlreiche Nachteile. Als erfolgreicher Künstler mußte man Leute einladen und wurde von anderen Leuten eingeladen. Man mußte von einer Party zur anderen gehen und sich dort mit Leuten abgeben, die einem gleichgültig waren.
In einer solchen Welt war John Mallory fehl am Platz. Schließlich war er schon fünfunddreißig, übrigens immer noch Junggeselle, und mußte endlich einmal wieder richtig arbeiten, bevor es zu spät war.
Eines der Schlafzimmer, das nach Norden hinausging, wurde in ein kleines Atelier verwandelt. Mallory bedauerte es niemals, daß er dem geselligen Leben der Stadt entflohen war. In seinem Häuschen wurde er nur von solchen Leuten gestört, die er brauchte – der Zeitungsfrau, dem Milchmann und dem Jungen des Dorfkrämers. Er lebte ganz allein und hatte Spaß daran.
Eines Morgens ging er nach dem Frühstück ins Atelier hinauf, um an einem schwierigen Bild weiterzumalen. Es stellte den Kopf und die Schultern einer Frau dar – einer Frau, die Mallory noch nie gesehen hatte. Er brauchte kein Modell, sondern malte nur nach den Eindrücken, die er aus flüchtigen, aber lange nachwirkenden Träumen erhielt.
An diesem Morgen hatte er sich vorgenommen, die Augen zu malen. Dreimal hatte er die Farbe bereits wieder von der Leinwand abgekratzt. Das Licht war gut, die Arbeitsbedingungen hervorragend, aber irgendwie waren die Farben immer schmutzig. Mallory sah seine Palette mit Abscheu an. Die Blautöne waren langweilig und tot, die grünen breiig und undurchsichtig. Wie konnte er jemals hoffen, mit so ungenügenden Mitteln das durchsichtige und leuchtende Türkis zu erzielen, das er brauchte, um die leeren Äugen mit Leben zu füllen?
Er zog wütend an seiner Pfeife und konzentrierte sich auf dieses unlösbare Problem. Da bemerkte er, daß seine Pfeife ausgegangen war. Er murmelte einen Fluch, holte seinen Tabaksbeutel aus der Tasche und erinnerte sich zur gleichen Zeit daran, daß er seinen letzten Tabak nach dem Frühstück aufgeraucht hatte. Dann fluchte er ausgiebig und ging nach unten, um nachzusehen, ob er nicht doch noch zufällig eine Dose Tabak herumliegen hatte.
Nach fünf Minuten gab er die vergebliche Suche auf und fluchte weiter – diesmal allerdings ungerechterweise auf den Kramladen im Dorf, der drei Kilometer entfernt war.
Dann dachte Mallory plötzlich wieder an die Dose Latakia. Er ging in die Küche und holte sie aus dem alten Ofen. Dann nahm er den Deckel ab und betrachtete den Inhalt verächtlich.
„Reinstes Gift“, murmelte er vor sich hin. Dann beschloß er, sich eine Kanne voll Tee zu machen – als Gegengift sozusagen. Während er darauf wartete, daß das Wasser kochte, dachte er über dieses einzige Andenken nach, das Colonel Harrys in dem Haus hinterlassen hatte. Eigentlich merkwürdig, daß der Colonel, der doch ein durch und durch militärischer Typ gewesen war, auf so eine dramatische Art und Weise aus dem Leben geschieden sein sollte …
„Wahrscheinlich hat er zuviel von diesem verdammten Tabak geraucht“, stellte er ohne Mitleid fest. Dann überlegte er sich aber doch, daß der Tabak wahrscheinlich schon lange in der Dose im Herd gewesen war, bevor Colonel Harrys eingezogen war.
Als er wieder in seinem Atelier war, dachte Mallory nicht mehr an dergleichen seltsame Dinge, sondern beschäftigte sich mit der Leinwand. Ab und zu trank er einen Schluck Tee und begann dann geistesabwesend seine Pfeife zu stopfen.
Als die blauen Wolken aus seiner Pfeife das Atelier mit dem typischen Duft des Latakia füllten, hatte Mallory bereits einen Weg gefunden, der Erfolg versprach. Er begann schnell und schwungvoll zu arbeiten. Schon nach überraschend kurzer Zeit sahen ihn ein Paar blaugrüne leuchtende Augen von der Leinwand herunter an.
Das Mädchen saß in dem Sessel, als Mallory aufwachte.
Sein Herz schlug schneller, als er sich dazu zwang, auf die Leinwand zu sehen. Dort hatte sich nichts verändert. Aber im Sessel saß das Original, das Modell zu seinem Bild.
Mallory setzte sich in seinem Feldbett auf und holte tief Luft. Es dauerte noch einige Zeit, bevor ihm allmählich klar wurde, was eigentlich geschehen war. Warum war er auf dem Bett eingeschlafen? Und wieso saß das Mädchen jetzt leibhaftig vor ihm?
„In Gottes Namen, wer sind
Weitere Kostenlose Bücher