Türkisgrüner Winter (German Edition)
tauchte Nicolas hinter ihm auf.
»Ist etwas passiert?«, fragte dieser.
»Nichts weiter, ich habe mich nur geschnitten.«
Wen interessierte denn jetzt mein blöder Finger?
»Ach, war’s mal wieder so weit?« Nicolas grinste. »Schlimm?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut. Und was macht der Gast hinter dem Tresen?« Nicolas beäugte Sebastian.
»Ach so. Ihr kennt euch ja nicht. Sebastian, das ist Penis … äh … Nicolas!« Ich fasste mir an die Stirn und verzog das Gesicht.
»Penis, Nicolas – wie auch immer. Hallo jedenfalls. Ich bin ein Freund von Emely«, sagte Sebastian. »Habt ihr hier vielleicht so etwas wie Verbandszeug?«
Der Penis nickte. »Seitdem Emely hier arbeitet, haben wir eine Erste-Hilfe-Station eingerichtet. Moment, ich hole etwas.« Er ging zurück in die Küche und kam wenig später mit einem großen weißen Pflaster zurück. »Danke«, sagte ich und löste die Serviette von meinem Finger. Die Blutung hatte ein bisschen nachgelassen und so klebte ich mir das Pflaster auf die Wunde.
»Nicolas, würde es dir etwas ausmachen, wenn du kurz für mich übernimmst? Mir geht es nicht besonders gut. Ich möchte mich einen Moment setzen.«
»Kein Problem«, sagte er. »Du siehst wirklich ein bisschen blass aus.«
»Danke«, antwortete ich, nahm mir einen Lappen und wischte das heruntergetropfte Blut vom Boden. Das Brettchen brauste ich mit heißem Wasser und Spülmittel ab und legte es in die Küche zum dreckigen Geschirr. Gleich darauf begab ich mich auf den Weg zu einem der hinteren Tische. Sebastian folgte mir unaufgefordert und nahm gegenüber von mir Platz. Ich lehnte mich zurück und war bereit, allem zuzuhören, was auch immer er mir zu sagen hatte.
»Elyas kapselt sich ziemlich ab«, begann Sebastian mit Blick auf seine gefalteten Hände. »Er versucht den ganzen Mist mit sich allein auszumachen. Bis zu einem gewissen Grad, auch wenn es mir schwer fällt, muss ich das wohl akzeptieren. Aber irgendwann ging es zu weit. Ich habe schon befürchtet, dass nichts Gutes dabei herauskommt. Und ich hatte Recht.«
»Was meinst du damit? Was ist passiert?«, fragte ich.
»Vor ungefähr eineinhalb Wochen habe ich ihn ohne Voranmeldung besucht. Auf seinem Schreibtisch lagen Antworten von unterschiedlichen Universitäten. Er hat sich um Studienplätze beworben. In München, Frankfurt, Heidelberg, Köln, Hamburg, Amsterdam, Wien, London – wo auch immer man sich nur vorstellen kann.«
Sebastian nippte an der Cola, die er mitgebracht hatte, und stellte das Glas wieder auf den Tisch. »Im ersten Moment war ich sauer«, sagte er. »Ich fragte Elyas, wann er beabsichtigt hatte, mir davon zu erzählen. Oder ob Alex und ich eines Tages sein leeres Zimmer vorgefunden hätten.
Elyas hat es überhaupt nicht gepasst, dass ich die Unterlagen gefunden habe. Er sagte, er hätte nicht vorgehabt sang- und klanglos zu verschwinden, sondern wollte nur keine Pferde scheu machen, solange nichts hundertprozentig sicher wäre. Ich habe versucht, meinen Ärger zu schlucken und mit ihm darüber zu reden, dass Flucht keine Lösung wäre. Aber wie jedes Mal hat er das Thema abgeblockt und alles runter gespielt.«
War ich mit ›die ganze Sache‹ und ›das Thema‹ gemeint?
»Alex weiß davon noch nichts«, fuhr Sebastian fort. »Ich war oft kurz davor, es ihr zu erzählen. Aber sie hätte ihm die Hölle heiß gemacht und damit wahrscheinlich leider genau das Gegenteil bewirkt. Es fühlt sich nicht schön an, ihr etwas zu verheimlichen.«
»Also ist es gar nicht sicher, ob er die Stadt verlässt?«, fragte ich wie ferngesteuert.
»Doch«, sagte Sebastian und atmete schwer. »Jetzt schon.«
»Was meinst du mit › Jetzt schon‹ ?«
»Nach Weihnachten hat er sich dazu entschlossen. Ich weiß es selbst erst seit gestern. Und so wie Elyas wirkte, gibt es an seinem Entschluss nichts mehr zu rütteln. Er sucht bereits nach einer Wohnung in Hamburg.«
Hamburg war mindestens dreihundert Kilometer von Berlin entfernt. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte und sich schmerzhaft zusammenzog.
Nach Weihnachten hat er sich dazu entschlossen …
Ich dachte an unser Gespräch vor dem Badezimmer. Hatte es etwas damit zu tun? Aber wie sollte es damit etwas zu tun haben? Ich verstand ja nicht einmal, dass ich überhaupt mit Elyas’ Umzug in Verbindung stehen sollte.
»Sebastian, warum erzählst du mir das alles? Ich verstehe nicht …«
»Emely«, sagte er und sah mir in die Augen. »Ich erzähle dir das nicht nur aus
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